Der Wind über den Klippen
gewundene Finnoontie ab. Man mochte kaum glauben, dass die Felder rechts und links der Straße nur zwei Kilometer vom so genannten Zentrum der zweitgrößten Stadt des Landes entfernt waren, und tatsächlich wurden sie bald von Baustellen abgelöst. Demnächst würden auf jedem Acker gleichförmige Reihenhäuser stehen, bewohnt von Menschen, die sich der Illusion hingaben, mitten in der Natur zu leben. Seit wir in Henttaa wohnten, vermehrten sich dort die Häuser wie Frösche in einer Regennacht, und manchmal fragte ich mich, woher eigentlich all die Menschen für diese Häuser herkamen.
Das schachtelförmigen Geschäftsgebäude der Merivaara AG
war ein Musterbeispiel für die Industriearchitektur der späten sechziger Jahre. Man hatte nachträglich versucht, es zu verschö-
nern, indem man die Fassade in drei verschiedenen Blautönen angestrichen hatte, aber das Ergebnis fiel eher bizarr als stilvoll aus.
Anne Merivaara war offenbar über die Ankunft des Streifenwagens unterrichtet worden, denn sie erwartete uns in der Eingangshalle. Es wunderte mich, dass sie schon wieder arbeitete, nachdem sie am Sonntag noch völlig gebrochen gewesen war. Im schwarzen Hosenanzug wirkte sie zerbrechlich, doch ihre Stimme war kühl und klar.
»Guten Tag, Hauptkommissarin Kallio. Herzlich willkommen bei der Merivaara AG«, sagte sie in einem Ton, als handle es sich um eine harmlose Besichtigungstour. »Gehen wir ins Konferenzzimmer im Obergeschoss, dann könnt ihr mir erklä-
ren, was ihr hier wollt.«
Ihre Bewegungen wirkten kontrolliert, doch mit der linken, zur Faust geballten Hand schien sie etwas zu umklammern. Wir folgten ihr in den Aufzug. In der obersten Etage des dreistöckigen Gebäudes befand sich ein großzügiger offener Raum. Von den Eckfenstern ging der Blick über braun gesprenkelte Felder.
»Selbstverständlich könnt ihr mit allen Angestellten sprechen, wenn ihr wollt. Juhas Sekretärin Paula Saarnio wird euch gern behilflich sein.« Anne stellte uns eine große dunkelhaarige, effizient wirkende Frau vor.
»Gut. Hauptmeister Kantelinen würde sich gern den letzten Quartalsbericht und die Bücher ansehen.«
»Ich habe nichts dagegen, aber warum?« Jetzt klang ihre Stimme verwundert.
»Es tut mir Leid, aber dein Mann ist aller Wahrscheinlichkeit nach einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«
Um den heißen Brei herumzureden, hatte ich nie gelernt, aber diesmal hätte ich es wenigstens versuchen sollen, denn Anne Merivaara sank sofort auf den nächsten Stuhl. Sie öffnete die linke Hand, in der ein tiefblauer Stein lag, etwa fünf Zentimeter im Durchmesser. Dann presste sie die Hand wieder um den Stein, als könne er ihr Kraft geben.
»Einem Verbrechen? Du meinst, Juha ist umgebracht worden.
Aber auf Rödskär waren doch nur … Wer von uns hätte Juha umbringen wollen?«
»Vielleicht können wir darüber gemeinsam nachdenken«, schlug ich vor und teilte meine Leute ein. Während Kantelinen sich mit der finanziellen Seite vertraut machte, sollten Wang und Koivu sowie Puupponen und Puustjärvi jeweils paarweise mit den Mitarbeitern sprechen. Die Merivaara AG war kein großes Unternehmen. In der Produktion arbeiteten zwanzig Angestellte, in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung fünf.
Dazu kamen sieben Bürokräfte.
Während ich die Einsatzbefehle erteilte, saß Anne Merivaara wie benommen auf ihrem Stuhl und fingerte an dem blauen Stein herum. Als sich die Tür hinter meinen Kollegen und der Sekretärin schloss, blickte sie auf und hielt mir den Stein hin.
»Ein Azurit. Ein Geschenk von Seija. Er soll mir Entschluss-kraft geben.«
»Fällt es dir denn schwer, Entscheidungen zu treffen?« Ich setzte mich zu ihr an den Tisch.
»Manchmal. Mein Sternzeichen ist Waage. Ich wäge die Dinge von allen Seiten ab und komme zu keinem Ergebnis.«
»Glaubst du daran? An Horoskope und Steine?«
»Ja. Wie ich auch daran glaube, dass Juha in anderer Gestalt weiterlebt«, sagte Anne ernsthaft. Zum Glück war Puupponen nicht dabei, er hätte sicher gesagt, jaja, als Radieschen.
»Das tröstet mich ein wenig. Vielleicht wird Juha als einer der Seevögel wieder geboren, die ihm immer wichtig waren. Bei Harri bin ich mir ganz sicher, dass er ein Seeadler geworden ist.«
Ein Seeadler. Das hätte ihm gefallen. Ich erinnerte mich, wie er an einem Vormittag glühend vor Begeisterung bei mir aufgetaucht war. Er hatte gerade erfahren, dass man auf einer bewaldeten Insel südwestlich von Hanko ein Seeadlernest mit zwei
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