Der Wind über den Klippen
küsste meine Familie zum Abschied.
Einstein schlüpfte mit mir nach draußen. Er war die ganze Nacht unruhig gewesen, weil er das Rascheln der Mäuse gehört hatte, die unter den Fußböden Schutz vor der Herbstkälte suchten. Nun wollte er wohl versuchen, von außen an die Beute heranzukommen.
Es regnete nicht, also fuhr ich mit dem Rad zur Arbeit. Antti hatte vorgeschlagen, unseren klapprigen Fiat zu verkaufen, denn in meiner neuen Position hatte ich Anspruch auf einen Dienstwagen, einen fast neuen Saab, mit dem ich auf dem Nachhauseweg guten Gewissens auch zum Einkaufen fahren konnte. Ich wäre im Mutterschaftsurlaub nicht ohne Auto ausgekommen, oder Antti nahm den Bus oder das Fahrrad, um die Einkäufe zu erledigen oder Iida zum Musikkreis zu bringen.
Für ihn ging es ums Prinzip.
Auf dem Flur unseres Dezernats sah ich als Erstes den steif dahinschleichenden Ström. Als er meine Schritte hörte, drehte er sich langsam um, trotzdem schwappte Kaffee aus der Tasse in seiner Hand.
»Wieder einsatzfähig?«, fragte ich vorsichtig.
»Nee, aber ich muss ja wieder ran, bleibt sowieso schon zu viel liegen. Wie sieht’s mit dem offenen Hauptmeisterposten aus, tut sich da was?«
»Keine Chance, das kann noch Monate dauern. Als Nächstes wird das Dezernat für Wirtschaftskriminalität aufgestockt.«
Aus finanziellen Gründen wurden viele Stellen nicht besetzt.
Unserem Dezernat fehlte schon seit drei Jahren ein Hauptmeister, obwohl Taskinen und Pertsa alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten. Auch der neue Etat sah keine zusätzlichen Mittel für die Polizei vor, sodass die Stelle noch lange vakant bleiben würde.
Der einzige Vorteil des Personalmangels bestand darin, dass auch ich als Dezernatsleiterin Vernehmungen führen musste, statt nur am Schreibtisch zu sitzen.
»Die verfluchten Witzbolde, die das Budget aufstellen, sollten mal einen Tag lang bei uns arbeiten, damit sie sehen, wie es hier zugeht! Warum redet in der Öffentlichkeit keiner über die Geldknappheit der Polizei? Aber wehe, wenn ein Polizist einen um sich ballernden Bekloppten erschießen muss, dann gibt’s Theater!«
Ström war mal wieder bei seinem Lieblingsthema. Seit ein entflohener Häftling vor anderthalb Jahren unseren Kollegen Palo entführt und in einem abgelegenen Sommerhaus als Geisel gehalten hatte, wurden wir immer wieder mit der Frage konfrontiert, wann die Polizei das Recht habe, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Unser Kollege und sein Entführer waren beim Rettungseinsatz ums Leben gekommen. Die Leiter der Operation und die Männer des Einsatzkommandos, die den Täter erschossen hatten, waren unter Anklage gestellt worden, der Prozess gegen sie lief noch. Auch ich hatte mitten im Mutterschaftsurlaub zur Vernehmung antreten müssen. Pertsa hielt das Verfahren für ungerecht, seiner Meinung nach trug der Entführer ganz allein die Schuld.
»Gib auf deinen Rücken acht, damit es nicht schlimmer wird.
Geh zum Arzt!«, riet ich ihm.
»Was wissen die Ärzte schon, die drücken dir Pillen in die Hand und schicken dich wieder an die Arbeit. Letztes Mal haben sie mir Litalgin verschrieben, das hat meine Alte früher immer gegen Menstruationsbeschwerden genommen«, knurrte Pertsa und verschwand in seinem Büro.
Ich rief die Kollegen, mit denen ich die Mitarbeiter der Merivaara AG vernehmen wollte, im Besprechungsraum zusammen.
Neben Koivu, Puustjärvi und Wang, die von Anfang an mit dem Fall zu tun gehabt hatten, sollte Puupponen mitkommen, dazu noch Kantelinen vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität, der sich um die finanzielle Lage der Firma kümmern würde.
»Es sieht doch ganz danach aus, dass einer der Geburtstagsgäste der Täter ist«, meinte Puustjärvi skeptisch. »Warum ermitteln wir dann in der Firma?«
»Ich will wissen, was dieser Juha Merivaara für ein Mensch war, das kann nützlich sein. Außerdem wurde bei einer der ersten Vernehmungen behauptet, in der Nacht habe ein Boot auf der Insel angelegt. Hat die Küstenwache dazu neue Informationen geliefert?«, fragte ich Puupponen.
Er schüttelte den Kopf. Da Rödskär nicht unmittelbar an der Grenze des Hoheitsgewässers lag, patrouillierte die Küstenwache dort nicht regelmäßig. Es war durchaus möglich, dass ein fremdes Boot unbemerkt auf der Insel angelegt hatte. Dennoch nahm ich Katrina Sjöbergs Aussage nicht für bare Münze; es konnte sich auch um ein Täuschungsmanöver handeln.
Wir fuhren durch das Zentrum von Espoo und bogen auf die schmale,
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