Der Wind über den Klippen
Jungen entdeckt hatte. Harri war über die Bedrohung der Seeadler durch Umweltgifte und Abholzung entsetzt gewesen und hatte darüber einen für seine Verhältnisse ungewöhnlich bissigen Artikel in der Zeitschrift des finnischen Naturschutzbundes veröffentlicht.
»Und in was für einen Vogel hat sich Juha verwandelt?«, fragte ich, obwohl mir das Gespräch absurd vorkam. Ich wollte ihr helfen, sich zu beruhigen, denn ich hatte ihr einige unangenehme Fragen zu stellen.
Anne betrachtete den Azurit und schüttelte den Kopf. Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Irgendein großer, lauter Vogel, der kleinere Artgenossen von seiner Klippe vertreibt. Das sagte sie in neutralem Ton, sie wusste, dass man im Geschäftsleben die Ellbogen einsetzen musste.
Trotz der Halbliterportion, die ich am Morgen getrunken hatte, meldete ich schon wieder der Kaffeedurst. Ob ich wohl um eine Tasse bitten durfte? Oder gab es hier aus ideologischen Gründen nur Kräutertee?
Bevor ich etwas sagen konnte, kam Paula Saarnio mit einem Tablett herein. Während sie mir Kaffee und Anne Tee ein-schenkte, nahm ich mir vor, ihre Vernehmung später selbst zu übernehmen. Sekretärinnen wissen Dinge über ihren Chef, die der Ehefrau verborgen bleiben. Sie erklärte, bei dem Gebäck handle es sich um Karottenkekse, dann ließ sie uns wieder allein.
Der Kaffee gab mir neue Energie. Ich trank meine Tasse leer und warf einen Blick auf Anne, die lustlos an einem Karottenkeks knabberte.
»Wie war die Stimmung auf der Geburtstagsfeier?«
Sie schluckte das Keksstück herunter, bevor sie antwortete:
»Ganz entspannt. Juha hat sein Bestes getan, damit sich alle wohl fühlten und ich nicht an Harri dachte. Aber so einfach war das nicht. Anfangs habe ich nicht einmal gewagt, Mikke anzusehen, weil ich wusste, dass auch er an das Vorjahr zurück-denkt. Der Wein hat die Stimmung natürlich gelockert.«
»Juha hatte ziemlich viel Alkohol im Blut. Trank er oft so reichlich?«
Sie fand, Juha habe regelmäßig mehr getrunken, als ihm gut tat. Betrunken sei er selten gewesen, aber er habe Drei-GängeMenüs geliebt, zu denen seiner Meinung nach die entsprechenden Getränke gehörten: Aperitif, Wein und Cognac. Gegen den Durst nach Feierabend und auf See habe er grundsätzlich Bier getrunken.
»Er hatte aber kein Problem mit dem Alkohol«, wiegelte Anne ab. »Er hat am Samstag nicht wesentlich mehr getrunken als sonst, obwohl ihn natürlich auch die Erinnerung an Harris Tod bedrückte.«
»Was hielt er von Riikkas Verhältnis mit Tapio Holma?«
»Tapsa ist ein netter Mensch und ein hervorragender Künstler.« Anne biss ein Stück Keks ab und spülte es mit ihrem nach Minze riechenden Tee herunter.
»Na gut, aber ist er auch als Schwiegersohn akzeptabel?«
»Die Verliebtheit wird nicht lange vorhalten. Wenn Tapsa wieder singen kann und Riikka ihre Heldenverehrung überwin-det, ist die Geschichte vorbei.«
Hatte sie ihren Mann mit denselben Worten beruhigt? Sie räumte ein, es sei Juha nicht recht gewesen, dass seine Tochter einen Freund hatte, der kaum jünger war als ihr Vater. Streit habe es deshalb jedoch nicht gegeben. Riikka sei volljährig und dürfe sich ihre Freunde selbst aussuchen. Allerdings sei Juha dagegen gewesen, dass die beiden sich eine gemeinsame Wohnung nahmen, weil sie sich erst seit einem halben Jahr kannten und weil Riikka noch nie allein gelebt hatte.
»Juha meinte, sie sollte erst selbständig werden, statt sich direkt aus dem Schoß der Familie in die Obhut eines Mannes zu begeben.«
Das klang ganz vernünftig. Als Nächstes fragte ich nach Jiri.
Anne hatte ja bereits angedeutet, dass Juha das Engagement seines Sohnes für die radikale Tierschutzbewegung nicht gebilligt hatte.
Sie schwieg eine Weile. Dann fragte sie:
»Du hast von einem Kapitalverbrechen gesprochen, während Mikke gesagt hat, Juha sei vom Felsen gestürzt. Was ist denn nun wirklich passiert? Wie wurde Juha … getötet?«
»Einzelheiten können wir leider nicht preisgeben.«
»Weil auch ich und die Kinder unter Verdacht stehen, nicht wahr?«
»Genau.«
Anne stand auf und ging ans Fenster, steckte den Stein in die Hosentasche und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Wind beutelte die Weidenbüsche am Feldrand, ein paar Krähen jagten einander. Das Espenlaub war bereits gelbrot, der übrige Wald noch grün, aber der nächste Nachtfrost würde die Birken gelb und die Weiden rot färben. Danach würden die Herbststür-me kommen und die Bäume nackt und
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