Der Wind über den Klippen
schmutzig braun hinterlassen.
»Juhas Tod ist schon schrecklich genug. Aber dass einer von uns ihn umgebracht haben soll … So etwas gibt es doch nicht!«
Anne drehte sich wieder zu mir um. Heute trug sie keine Brille.
Um die Augen war die Haut noch heller als an Stirn und Wangen, offenbar die Spuren einer Sonnenbrille. Die schmalen Lippen waren farblos und von kleinen Fältchen umgeben. Dank ihrer hohen Backenknochen und der schmalen, schön geformten Nase hätte sie mit leichtem Make-up als Fotomodell für Naturkosmetik posieren können.
»Wie kannst du nur glauben, Jiri hätte seinen Vater ermordet!
Er ist ja nicht einmal bereit, eine Mücke zu erschlagen, lieber lässt er sich stechen!«
Ich gab keine Antwort. Nachdem ich Jiris Schlägerei mit Akkila gesehen hatte, konnte mich dieses Argument nicht überzeugen. Das musste auch Anne wissen.
»Vergessen wir Jiri vorläufig. Wie war eure Ehe? Wart ihr glücklich?«
Anne setzte sich wieder an den Tisch und schenkte sich Tee nach.
»Was verstehst du unter Glück?«
Natürlich hatte ich darauf keine Antwort parat, also trank ich schweigend meinen Kaffee.
»Ich habe oft darüber nachgedacht, warum die Menschen immerzu dem Glück nachjagen. Um Ausgeglichenheit habe ich mich bemüht, das ja, aber Glück … Als ich jünger war, dachte ich, Glück wäre dasselbe wie Verliebtheit. Obwohl ich überall Beweise für das Gegenteil sah, habe ich mir eingebildet, es gäbe eine Liebe, die alles erträgt und das ganze Leben lang Bestand hat. Wie im Märchen: Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Dabei ist es wohl eher so, dass andere Menschen einen zwar unglücklich machen können, dass man sein Glück aber nur in sich selbst findet.«
Sie nahm einen Schluck Tee und fuhr fort:
»Für Juha bedeutete Glück anfangs, eine hübsche junge Frau und ein florierendes Unternehmen zu haben. Glück war das neue Haus am Meer oder ein größeres Boot. Juhas Glück hatte mit Besitz und Leistung zu tun, zum Beispiel wenn er in fünfzig Stunden, ohne zu schlafen, nach Föglö segelte. Glück, das war für ihn nicht das Lächeln seiner Kinder oder meine Liebe …«
In ihren Augen schimmerten Tränen, eine lief langsam über die linke Wange.
»Das ist ja nichts Verwerfliches. Mein Glück bestand darin, dass Juha und die Kinder glücklich waren. Ich habe mich wohl nach etwas anderem gesehnt als nach immer neuen Errungen-schaften. Als wir gemeinsam auf die Idee kamen, Ökofarben herzustellen, da war ich wirklich glücklich.«
Sie wischte sich über die Augen und versuchte zu lächeln.
»Eigentlich hat uns Riikka den Anstoß dazu gegeben. Sie war von klein auf verrückt nach Tieren, aber als sie zehn war, stellte sich heraus, dass sie eine Tierhaarallergie hat. Es war eine ziemliche Tragödie, Katzen, Hunde, Pferde, Hamster, alles war tabu für sie. Ich habe damals nachgeforscht, woher diese Allergien kommen, habe mich mit Umweltgiften und dergleichen vertraut gemacht. Um die gleiche Zeit kam Juha auf den Gedanken, die Merivaara AG müsse sich deutlicher auf einem bestimmten Sektor profilieren, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können.«
Anne hob die Teetasse und trank sie leer. Ihr Handgelenk sah fast zu zart aus, um die Tasse halten zu können. Wie hätte sie mit diesen Händen jemanden erschlagen können?
»In den letzten Jahren haben wir uns erneut auseinander gelebt. Juha hatte kein Verständnis für geistige Werte, ihm fehlte die Fähigkeit, innezuhalten und nachzudenken. Er musste unaufhörlich voranpreschen. Die Natur war für ihn kein Wert an sich, wenn er sie schützte, dann nur, damit sie den Menschen angenehme Lebensbedingungen bot. Darüber haben er und Jiri dauernd gestritten, denn Jiri meint, jede Mücke ist so wertvoll wie er selbst.«
Das Telefon klingelte. Anne bat um Entschuldigung und nahm ab. Offenbar erkundigte sich die Sekretärin nach einem Geschäftstermin, denn Anne sagte, die Verhandlung müsse auf die nächste Woche verschoben werden. Ihre Stimme klang nun fast herrisch, ihr Gesicht wirkte strenger. Es wunderte mich, dass sie so kurz nach dem Tod ihres Mannes imstande war, die Geschäf-te weiterzuführen. Vielleicht hielt sie das für die beste Art, sein Vermächtnis zu ehren.
»Ihr habt euch auseinander gelebt, sagst du. Wie machte sich das im Alltag bemerkbar?«, hakte ich nach, als sie den Hörer aufgelegt hatte.
»Wir haben nichts mehr gemeinsam unternommen. Meine Meditationswochenenden und Fastenkurse interessierten Juha
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