Der Wind über den Klippen
kreischte ein Möwenpärchen, mich fror an der Nase.
»Du hast gesagt, Juhas Leiche würde freigegeben.«
Ich nickte und zog die Jacke fester um mich. Es wäre das Vernünftigste gewesen, in die Kajüte zu gehen und mich aufzuwärmen, aber Einsichtigkeit war noch nie eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften gewesen.
»Juha wird wahrscheinlich eingeäschert. Er hätte sich bestimmt gewünscht, dass wir seine Asche ins Meer streuen, das ist doch heutzutage erlaubt, oder?«
»Ja.«
»Auf See möchte ich auch eines Tages sterben, aber nicht so unvorbereitet wie Harri und Jukka, sondern in einem Sturm, im Kampf gegen das Meer. Wenn ich allerdings das schwache Herz der männlichen Linie unserer Familie geerbt habe, rafft mich garantiert ein Infarkt dahin.« Mikke grinste schief und legte den Arm über die Rücklehne der Sitzkiste, sodass er beinahe meine Schultern streifte.
»Bist du auf deinen Fahrten jemals in Lebensgefahr geraten?«
»Ein paar Mal. Am schlimmsten war es 1990 im Indischen Ozean, bei meiner ersten Weltumseglung im Alleingang. Östlich der Chagosinseln erwischte mich eine höllische Magenkrank-heit, ich hatte tagelang Fieber und konnte nichts bei mir behalten. Am vierten Tag kam im Südwesten ein kleiner Wirbelsturm auf. Ich war so geschwächt, dass ich es einfach nicht geschafft habe, das Boot unter Kontrolle zu halten, es machte in einem fort Wasser. Irgendetwas hat mich daran gehindert, einfach aufzugeben. Ich konnte den Treibanker fieren, das hat mich gerettet. Und einmal hatte ich vor der nordspanischen Küste Ruderschaden, die ›Leanda‹ war nicht mehr manövrierfähig. Zum Glück kam mir der Küstenschutz zu Hilfe, bevor ich auf den Atlantik abgetrieben wurde.«
Mikke schwieg sekundenlang, dann sah er mir gerade in die Augen.
»Und du? Bist du bei deiner Arbeit je in Lebensgefahr geraten?«
Das Klingeln des Handys ersparte mir die Antwort. Puupponen rief aus dem Präsidium an und fragte nach Instruktionen in einem der Fälle, an denen Ström gearbeitet hatte, weil er Ström zu Hause nicht erreichen konnte. Ich ging aufs Vorderdeck, um ungestört reden zu können, und als die Sache geklärt war, hatten wir den Hafen fast erreicht. Bevor wir anlegten, rief ich rasch noch Seija Saarela an, die sagte, sie sei den ganzen Nachmittag zu Hause. Ich hatte Antti versprochen, zeitig nach Hause zu kommen, denn er wollte sich im Filmarchiv einen französischen Film aus den vierziger Jahren ansehen, der nur einmal gezeigt wurde. Da Koivu meckerte, er würde bei der Vernehmung keine einzige Zeile mitschreiben, wenn er nicht vorher etwas zu essen bekäme, versprach ich ihm vor dem Besuch bei Frau Saarela ein Mittagessen im »Chico’s«.
Dass ich Mikke Sjöberg, der zu Tapio Holma ins Auto stieg, nachstarrte, merkte ich erst, als Koivu mir auf den Rücken klopfte.
»Maria«, sagte er warnend. »Du bist verheiratet, vergiss das nicht, und der Kerl da ist einer unserer Verdächtigen. Du hast selbst gesagt, dass er etwas verheimlicht.«
»Hast du Wang gestern bis nach Hause begleitet oder nur bis zur Bushaltestelle?«, gab ich zurück und stapfte zu unserem Wagen. Der verflixte Koivu kannte mich allmählich zu gut.
Neun
»Ich mochte Juha Merivaara nicht besonders«, sagte Seija Saarela und legte einen violettbunten Amethyst von der Größe einer Babyfaust aus der Hand. Wir hatten sie in ihrer kleinen Wohnung in Soukka angetroffen. Das größere der beiden Zimmer war voller Steine und Schleifgeräte. Sie räumte weiße Quarzbrocken von einem Sessel und holte zwei Küchenstühle dazu, für die kaum noch Platz war. Durch die Tür zum Schlafzimmer sah man das Bett, auf dem eine dunkelviolette Tagesdecke lag.
»Sie finden es also nicht überraschend, dass ihn jemand erschlagen hat?«
»Überraschend? Nein. Eher erschütternd und beängstigend.«
Seija Saarela hatte eine tiefe, klingende Stimme, eher Tenor als Alt. Ob sie neben dem Steineschleifen auch Gesang als Hobby betrieb?
Sie hatte uns erzählt, dass sie das Schleifen und die Schmuck-herstellung nur als Zeitvertreib betrachtete. Sie war ausgebildete Bauzeichnerin, aber seit sechs Jahren arbeitslos, abgesehen von zwei kurzzeitigen ABM-Jobs. Die Steine wiederum brachten nicht genug ein, um davon leben zu können, und zum Arbeitslo-sengeld durfte man kaum etwas hinzuverdienen. Als Unbeteiligter musste man den Eindruck gewinnen, dass sie in der Klemme saß. Eine fünfzigjährige Bauzeichnerin konnte kaum mehr mit einer Anstellung rechnen. Doch
Weitere Kostenlose Bücher