Der Wind über den Klippen
fragte ich nach Juhas Verhältnis zu seinem Stiefbruder.
»Ich glaube, Juha hat Mikke zugleich verachtet und beneidet.
Verachtet hat er ihn, weil Mikke sich vor der Pflicht drückte, das Familienunternehmen weiterzuführen, andererseits beneidete er ihn um seine Freiheit und sein Renommee als Segler. In Seglerkreisen ist Mikke ein Star, oder er wäre es vielmehr, wenn er nur wollte.«
Die plötzliche Wärme in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Wann darf Mikke in See stechen?«, fragte sie. »Er will sicher vor den Herbststürmen aufbrechen. Sie können ihn doch nicht verdächtigen, er hat schließlich keinen Grund …«
»Wie stand Sjöberg zu seinem Bruder?«, unterbrach ich sie.
Seija holte die Teekanne aus der Kochnische und goss ein, bevor sie antwortete:
»Mitunter amüsierte er sich geradezu über Juha, manchmal regte er sich über ihn auf. Mikke meint, bisweilen habe Juha eine erschreckende Ähnlichkeit mit seinem Vater. Besonders nah schienen sie sich nicht zu stehen, deshalb überrascht es mich, wie tief Mikke jetzt trauert. Bitte, greifen Sie zu.«
Koivu trank gierig von seinem Tee und verbrannte sich den Mund, während ich nach den Ereignissen in Juhas letzter Nacht fragte. Seija Saarela sagte, sie habe unruhig geschlafen und gehört, dass auch Katrina Sjöberg, mit der sie das Zimmer teilte, sich schlaflos in ihrem Bett wälzte.
»Ich spüre es, wenn es in meiner Umgebung starke Energiefelder gibt. Und die gab es in dieser Nacht.«
»Von wem oder was gingen diese Energien aus?« Ich beschloss, Seija Saarelas Terminologie zu verwenden, denn letztlich ging es uns beiden um dieselbe Frage: Wer war so wütend auf Juha Merivaara gewesen, dass er ihn tötete?
»Von Juha selbst«, antwortete sie, war jedoch nicht bereit, mehr dazu zu sagen. Sie erzählte, sie habe in der Nacht Leute in der Festung umhergehen hören. Als ich schließlich fragte, ob Fremde auf die Insel gekommen seien, zögerte sie:
»Ich bin nicht ganz sicher … Ich bin immer wieder kurz eingeschlafen. Beschwören würde ich es auf keinen Fall, aber mir war, als hätte ich ein Boot gehört. Dass mitten in der Nacht jemand auf der Insel anlegt, kommt gelegentlich vor, allerdings war es diesmal stockdunkel. Weder Mond noch Sterne.«
Als ich fragte, wer ihrer Meinung nach als Täter infrage käme, gab sie barsch zurück, derartige Ratespiele überlasse sie der Polizei. Ihr Telefon klingelte, den Gesprächsfetzen entnahm ich, dass der Anrufer ihr Sohn war.
»Ich habe gerade Besuch, das heißt, eigentlich ist es kein Besuch, sondern die Polizei … Nein, bei mir ist alles in Ordnung, ein Bekannter ist verunglückt. Kann ich dich später anrufen?« Sie legte auf und sagte, sie habe in knapp einer Stunde eine Verabredung in Tapiola. Davon hatte sie bisher nichts erwähnt, aber ich fand ohnehin, dass wir sie zur Genüge ausgefragt hatten. Also gingen wir.
Als ich nach Hause kam, war ich entsetzlich müde. Einstein schlüpfte an mir vorbei ins Freie, als wolle er dem Lärm entfliehen, denn Antti spielte Klavier, und Iida schlug zur Begleitung Topfdeckel gegeneinander. Den Topfschrank auszuräumen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Ich hatte nicht die Kraft, das Geschepper zu ertragen, und wäre am liebsten in die obere Etage geflohen, aber da ließ Iida, entzückt über meinen Anblick, die Topfdeckel fallen, stand auf und tapste auf mich zu.
»Ma-mi!«, gluckste sie und strahlte über das ganze Gesicht.
Sie trug die Speisekarte auf dem Hemdchen, anscheinend hatte es Gulasch und zum Nachtisch Grießbrei gegeben. Ich hob sie hoch und hielt sie mit dem Rücken zu mir.
»Antti, die Kleine ist furchtbar dreckig«, kreischte ich über Bachs Musik hinweg.
»Na und? Sieht doch keiner. Ich hatte keine Lust, sie umzuzie-hen, sie isst ja sowieso bald wieder.« Ungerührt spielte er weiter.
»Aber …«, fing ich an und verstummte. Aber was? Welche Urmutter wollte mir einflüstern, ein Kind müsse immer saubere, frisch gebügelte Sachen anhaben? Dabei konnte ich mich einfach nicht dazu aufraffen zu bügeln, weder jetzt noch im Mutterschaftsurlaub. Antti übrigens auch nicht. Trotzdem schleppte ich mich nach oben und zog Iida ein frisches Hemdchen an, damit sie nicht alles schmutzig machte. Ich selbst zog mir einen Jogginganzug über, bevor wir uns aufs Bett fallen ließen, um zu schmusen und herumzualbern.
»Babytier«, sagte ich und kitzelte Iida im Nacken. Sie kicherte. Es hatte einige Monate gedauert, bevor wir gegenseitig
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