Der Wind über den Klippen
unsere Sprache lernten, in den ersten Monaten war ich praktisch hilflos gewesen, wenn das Baby schrie. Ich hatte es an die Brust gelegt und ihm die Windeln gewechselt, doch das Kind, das wir bis zur Geburt Schnüppchen genannt hatten, wollte keine Ruhe geben. Ich hatte es herumgetragen und ihm etwas vorgesungen, mit verspannten Schultern und benommen von den durchwach-ten Nächten, und mich betrogen gefühlt, wenn der Winzling sich auf Anttis Arm sofort beruhigte. Es war, als hätte ich einen Webfehler, meine mütterliche Zärtlichkeit wirkte einfach nicht.
Nachdem ich wieder in den Beruf zurückgekehrt war, hatte sich die Situation umgedreht: Nun war Antti derjenige, gegen den Iida launisch war, während sie bei mir besonders niedlich war.
Im Mutterschaftsurlaub hatte ich sie beim Joggen im Kinderwagen vor mir hergeschoben, zur Rückbildungsgymnastik mitgenommen, wo ich einige neue Übungen gelernt hatte.
Bankdrücken mit einem zehn Kilo schweren Kind als Gewicht war überraschend effektiv. Iida gluckste vergnügt.
»Übrigens, heute im Supermarkt hab ich Ström gesehen«, sagte Antti, der nach oben gekommen war und uns zuschaute.
»Ach. Und?«, ächzte ich, während ich mit Iidas Unterstützung die Beinmuskeln trainierte.
»Er hat getan, als ob wir uns nicht kennen, und ist mit einem Kasten Bier und vier Stangen Marlboro zur Kasse marschiert.«
»Interessante Diät«, sagte ich scheinbar leichthin, doch ich machte mir Sorgen. Auch beim anschließenden Jogging dachte ich abwechselnd über Pertsa und über den Mord an Juha Merivaara nach. Erst als mir ein besonders gut gebauter Jogger entgegenkam, vergaß ich endlich den Beruf und fing an, den herbstlichen Wald zu genießen. Der Nachtfrost hatte mit feinem Pinsel jeden Grashalm und jedes Blatt einzeln gefärbt, für jedes eigene Farbtöne und Kombinationen gefunden. Ein Ahorn glühte blutrot, der nächste leuchtete sonnengelb, der Beifuß war wie aus Schokolade gegossen. Die Farben durchströmten mich, füllten meine Adern mit einer Energie, die mir Flügel an die Füße zu zaubern schien. Ich musste einfach glücklich sein, die Farben ließen nichts anderes zu.
Antti ging ins Kino, anschließend wollte er mit Freunden noch ein Bier trinken. Nachdem Iida eingeschlafen war, versuchte ich Ström anzurufen, doch er meldete sich nicht. Ich war besorgt, aber auch erleichtert, denn Pertsa hätte mich wahrscheinlich angeschnauzt, ich solle mich mit meinem fürsorglichen Getue zum Teufel scheren.
Bei der Einsatzbesprechung am nächsten Morgen war unser Dezernat merklich zusammengeschmolzen, denn außer Ström fehlten auch Wang und Puustjärvi, die an einer Gerichtsverhand-lung teilnahmen. Kurz vor Abschluss der Besprechung kam der Diensthabende atemlos angelaufen.
»Ein Anruf von der Feuerwehr. Der Schlachthof Malinen im Industriegebiet Kauklahti steht in Flammen, sie brauchen Leute vom Gewaltdezernat.«
»Nächste Woche gibt’s Räucherschinken im Angebot«, witzelte Puupponen. Ich brachte ihn zum Schweigen, indem ich fragte, warum der Brand dem Gewaltdezernat gemeldet wurde.
»Es sind Leute drin, und es sieht nach Brandstiftung aus.«
Ich sah mich um. Außer Puupponen und mir waren alle für den ganzen Vormittag verplant. Ich hatte eigentlich vorgehabt, Riikka Merivaara anzurufen und mir das Haus der Familie anzusehen, aber das würde warten müssen, ebenso die bereits zweimal verschobene Verabredung zum Mittagessen mit Taskinen.
Obwohl es keine Rolle spielte, wie schnell wir am Brandort eintrafen, waren Puupponen und ich schon ein paar Minuten später auf dem Weg nach Kauklahti. Die Einsatzzentrale meldete, neben den Feuerwehren von Espoo und Kirkkonummi seien bereits Beamte der Schutzpolizei und des Dezernats für Wirtschaftskriminalität eingetroffen. Auch die Versicherungsge-sellschaft hatte ihren hauseigenen Detektiv entsandt. Wie viele Menschen sich in dem brennenden Gebäude aufhielten, wusste man noch nicht. Der Arbeitstag der rund zwanzig Mitarbeiter hatte wie immer um sieben Uhr begonnen, das Feuer, das im Umkleideraum des Personals seinen Anfang genommen hatte, war kurz nach halb neun entdeckt worden.
»Moment mal … Wenn ich mich richtig erinnere, war doch im Frühjahr schon mal was mit der Schlächterei Malinen. Aufge-schlitzte Reifen an den Lkws, Feuer in einem Müllcontainer?
Waren am Tatort nicht die Buchstaben RdT aufgesprüht worden? Revolution der Tiere?«, fragte ich Puupponen, während wir mit Blaulicht und überhöhter
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