Der Wind über den Klippen
bewegen. Als ich am nächsten Morgen die kurze, sachliche Nachricht in der Zeitung las, ein seit zwei Tagen vermisster junger Mann sei tot aufgefunden worden, fühlte ich mich wie ausgebrannt.
Am Dienstagmorgen rief Lehtovuori an, um mitzuteilen, er habe Bronchitis und neununddreißig Grad Fieber und sei für drei Tage krankgeschrieben. Das bedeutete, dass ich jemand anderen für die Fahndung nach der verschwundenen Pilzesammlerin abstellen musste.
»Pfleg dich gut und werd bald wieder gesund«, sagte ich in mütterlichem Ton, bemüht, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Koivu und ich mussten am Nachmittag im Kriminalamt über Pertsas Verfehlungen aussagen. Eigentlich hatte ich Riikka Merivaaras Vernehmung delegieren wollen, doch nun war außer mir niemand verfügbar.
Kantelinens Bericht über die Finanzlage der Merivaara AG lag endlich auf meinem Schreibtisch. Vor der Morgenbesprechung blätterte ich ihn hastig durch. Das Unternehmen war stabil, in den letzten Jahren waren keine größeren Investitionen nötig gewesen. Die Bilanz machte einen guten Eindruck. Im Aufsichtsrat saßen außer Juha und Anne Merivaara nur der Finanzchef Heikki Halonen sowie ein gewisser Marcus Enckell, dem Namen nach vermutlich ein Verwandter der verstorbenen Mutter von Juha Merivaara. Das Einzige, was Kantelinen mit einem Fragezeichen versehen hatte, war die Firma Mare Nostrum, die zwölf Prozent der Merivaara-Aktien hielt. Über die Besitzer dieses Unternehmens gab weder die Aktienliste der Merivaara AG noch das Handelsregister Auskunft. Die Spur endete bei einem Postfach auf Guernsey.
Mein erster Gedanke war Steuerbetrug. Ich tippte Kantelinens Nummer ein, um ihn nach seiner Meinung zu fragen, doch er war nicht zu erreichen. Missmutig machte ich mich auf den Weg zur Lagebesprechung. Der Anblick von Koivu und Wang, die die Köpfe zusammensteckten wie zwei verliebte Teenager, verbesserte meine Laune keineswegs. Weil Koivu am Nachmittag mit mir ins Kriminalamt musste und ich zudem für Riikka Merivaaras Vernehmung einen Partner brauchte, ordnete ich an, dass Lähde Anu Wang bei dem Vermisstenfall unterstützte.
»Was hat dich denn so überaus passend an den Fundort von diesem Aaltonen geführt? Warst du wieder bei dem Mordleucht-turm?«, fragte Lähde plötzlich.
»Nein. Es war reiner Zufall«, sagte ich kurz angebunden und versuchte zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen.
»Du bist also nicht extra mit einem Polizeiboot rausgefahren, um nach dem Jungen zu suchen?«, hakte Lähde nach.
»Nein. Ich war im Fall Merivaara unterwegs.« Es ärgerte mich, dass Lähdes hartnäckige Fragen mich verlegen machten.
»Ein zentraler Ermittlungsstrang in diesem Fall wird der ökonomische Aspekt sein. Nach außen hin ist die Firma sauber, aber mit einem der Anteilseigner stimmt etwas nicht. Koivu und Puustjärvi übernehmen zusammen mit mir die weiteren Zeugen-vernehmungen. Pete, du kümmerst dich um die Mitglieder des Aufsichtsrats. Wir setzen uns zusammen, sobald unser guter Herr Kantelinen sich meldet. Koivu, um halb elf im Vernehmungsraum zwei!«
Ich flüchtete mich in mein Büro, um ein paar Minuten Ruhe zu haben. Vor der Besprechung hatte ich mein Handy ausgeschaltet; nun sah ich, dass sechs Nachrichten eingegangen waren, darunter vier von zu Hause. Antti musste irgendein Problem haben.
»Sarkela«, meldete er sich außer Atem. Im Hintergrund hörte ich Iida brüllen. »Ich hatte nur angerufen, weil ich den Auto-schlüssel nicht finden konnte. Iida hat sich am Klavier böse den Kopf angeschlagen, direkt neben dem Auge, ich muss zum Arzt mit ihr.«
»Um Himmels willen! Kommst du klar?«, fragte ich erschrocken. Natürlich wurde Antti mit der Situation fertig. Dennoch überfiel mich der Rabenmutterkomplex: Ich hätte alles stehen und liegen lassen und zur Poliklinik nach Matinkylä rasen müssen, um mein verletztes Kind zu trösten. Aber das war einfach nicht möglich.
»Ruf an, wenn du mehr weißt, ich lass das Handy eingeschaltet«, sagte ich. Antti hatte es eilig loszufahren. Der eine der beiden anderen Anrufe war von der Sicherheitspolizei gekommen. Ich rief nur deshalb zurück, um nicht unablässig an Iida denken zu müssen und mir auszumalen, wie sie mit blutendem Auge und laut schreiend im Kindersitz saß. Dass die Sicherheitspolizei mit mir über Jiri Merivaara reden wollte, überraschte mich nicht. Man war dort auf denselben Gedanken gekommen wie ich: Hatte der Junge seinen Vater im Zuge eines
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