Der Wind über den Klippen
der Schäreninseln wuchsen. Meine Augen begannen zu tränen.
»Du hast gehört, wie Jiri in der Nacht das Haus verließ. Bist du sicher, dass er nur eine Minute draußen war? Vielleicht bist du zwischendurch eingeschlafen?«
»Nein, bin ich nicht.« Seine Stimme klang fest. »Ich hatte Reisefieber wie ein kleiner Bub und konnte nicht einschlafen.
So ist es immer, der Abschied ist schwierig und herrlich zugleich. In der ersten Nacht auf dem Boot schlafe ich dann wie ein Stein. Auf dem Meer bin ich zu Hause.«
Mikke sah mir in die Augen. »Jiri ist ganz schön fanatisch, aber ein Killer ist er nicht. Letzten Endes hat er seinen Vater gern gehabt. Ich mach mir trotzdem Sorgen um den Jungen.
Eines Tages wird er tatsächlich eine Dummheit begehen.«
»Das hat er schon getan, wie es scheint.« Ich versuchte, die Haare unter den Reif der Ohrenschützer zu schieben, damit sie mir nicht ständig ins Gesicht wehten. Meine Hände waren steif vor Kälte, die Lederhandschuhe längst durchnässt. Vielleicht sollte ich mir doch besser Handschuhe von Mikke leihen.
»Ich habe schon überlegt, ob ich den Winter über hier bleiben sollte. Aber das bringe ich nicht fertig, ich muss raus. Ich kann nicht monatelang an Land leben.«
Die Sonne holte das Blau des Meeres in Mikkes Augen, sie sahen traurig aus und so tief, dass ich das Gefühl hatte, in ihnen zu versinken. Dann zog er an seiner Pfeife, was mir einen Vorwand gab, zu husten und den Blick abzuwenden.
Ich musste mich zusammennehmen, um mich nicht meinerseits zu einer Dummheit hinreißen zu lassen. In den mehr als zehn Jahren meiner Laufbahn bei der Polizei hatte ich es mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun gehabt, mit Topmanagern, debilen Kleinkriminellen, Kindsmörderinnen und Psychopathen.
Aber noch nie hatte ich mich so stark zu einem Zeugen oder Verdächtigen hingezogen gefühlt, weder damals zu Antti noch zu meiner Jugendliebe Johnny, den ich vor einigen Jahren in meiner Heimatstadt Arpikylä des Mordes verdächtigt hatte.
Mikke Sjöberg hatte etwas, das mich völlig durcheinander brachte. Als schön konnte man ihn nicht unbedingt bezeichnen.
Sein sehniger Körper war mager, fast knochig, das Gesicht hart, der Blick unstet. Dennoch war ich bereit zu vergessen, dass ich glücklich verheiratet war und Mikke des Mordes an seinem Halbbruder verdächtigte.
Doch ich konnte meinen Beruf nur für einige traumverlorene Sekunden beiseite schieben.
»Die RdT fordert von ihren Mitgliedern aggressives Vorgehen, das steht in ihrem Grundsatzprogramm. Wäre es denkbar, dass Jiri seinen Vater im Namen der Organisation getötet hat?«
Mikke versuchte vergeblich, das Zucken in seinem Gesicht zu verbergen. Wortlos schüttelte er den Kopf. Ich ertrug die Stille nicht, denn sie zog mich zu ihm hin.
»Also weder Riikka noch Tapio, noch Jiri. Und was ist mit dir? Wie hast du zu deinem Bruder gestanden?«
Wieder verschwanden seine Augen hinter einer Rauchwolke.
Dann stand er auf und sagte hastig:
»Zeit für einen Kurswechsel, übernimm die Pinne. Ich setze den Spinnaker. Dreh nach Westen bei, wenn ich’s dir sage!«
Ich packte das Ruder und fluchte über mich selbst. Warum hatte ich mich auf diesen idiotischen Segeltörn eingelassen?
Mein Job war ohnehin kompliziert genug, was sollte erst daraus werden, wenn ich mich in einen der Verdächtigen verliebte.
Mikke hisste den Spinnaker und lockerte die Großschot.
»Fertig zum Halsen!«
Das Boot legte sich in den achterlichen Wind, der Spinnaker blähte sich, das Großsegel legte sich zum anderen Bug. Der achterliche Wind trieb keine hohen Wellen auf, sodass die
»Leanda« gleichmäßig über das Wasser glitt. Wir fuhren in Richtung Porkkala, im Süden war Rödskär als rötlicher Punkt zu sehen. Als Mikke sich wieder hinsetzte, stellte ich meine nächste Frage.
»Kannst du dir vorstellen, dass dein Bruder Harri getötet hat?«
Mikke riss die Augen auf.
»Harri ist doch nicht umgebracht worden!«
»Und wenn doch?«
»Um Himmels willen, nein! Warum denn?«
»Sag du es mir.«
Er starrte auf den Landstreifen, der sich am Horizont abzeichnete. »Wir waren uns doch darüber einig, dass Harri ein sanfter Mann war. Wer würde einen wie ihn umbringen?«
»Hat Seija Saarela ihn gekannt?«
»Sie waren ein paar Mal gemeinsam auf der ›Leanda‹. Aber das ist ja völlig absurd, du kannst doch nicht annehmen, dass Seija …« Mikke seufzte, sein Gesicht spannte sich, es wurde blass und maskenhaft, seine magere Hand umschloss
Weitere Kostenlose Bücher