Der Wind über den Klippen
sicher, aber ich sah, dass seine Lippen zuckten.
»Achte auf das Echolot, unser Tiefgang ist eins Komma sechs.
Schade, dass wir die Jolle nicht dabeihaben.«
Etwa zwanzig Meter von der Leiche entfernt fanden wir einen Ankerplatz. Ich sprang an Land und merkte erst jetzt, dass ich nicht trockenen Fußes zu der Leiche kommen würde, die bäuchlings im Schilf lag.
»Hast du Gummistiefel dabei?«
»Ja, Größe vierundvierzig.«
»Umso höher reichen sie. Wirf sie rüber«, bat ich, während ich das Boot an einer Kiefer vertäute.
»Sie sind dir viel zu groß. Ich kann ja hingehen …«
»Nein! Du bleibst auf dem Boot!«
Mikke sah reichlich mitgenommen aus. Ich hoffte, das Polizeiboot käme bald, damit ich ihn fortschicken konnte. Am Fundort einer Leiche störten Zivilisten nur.
Ich zog die Stiefel über die Schuhe, so hatte ich besseren Halt.
Dann watete ich so weit ins Geröll, bis ich die Leiche am Ärmel fassen und etwas näher ans Ufer ziehen konnte, damit sie nicht hinaustrieb. Mehr konnte ich vorläufig nicht tun.
»Kann ich irgendwie helfen?«, rief Mikke.
»Bleib nur, wo du bist. Hast du Gummihandschuhe?«
Er schüttelte den Kopf. Ich ging zurück ans Ufer und rief unser Dezernat an, wo sich Koivu meldete.
»Die Personenbeschreibung von dem vermissten Oberschü-
ler?«
»Eins neunundsiebzig, schlank. Dunkle, glatte, schulterlange Haare, braune Augen. Tätowierung …«
»Bekleidung?«
»Braune Samtjacke, grüne Twillhose, Turnschuhe Marke Adidas und …«
»Das genügt schon. Er schwimmt hier vor der Iso Vasikkasaari.«
Das Polizeiboot traf ein und brachte den Fotografen gleich mit.
Nachdem er seine Aufnahmen gemacht hatte, zogen wir Schutzkleidung über, hoben die Leiche aus dem Wasser und drehten sie um. Ich hatte mir inzwischen das Foto des verschwundenen Arttu Aaltonen ins Gedächtnis gerufen, und als ich nun das Gesicht des Ertrunkenen sah, war ich sicher, ihn vor mir zu haben. Ich klopfte die Leiche ab und fand eine Brieftasche in der Brusttasche. Vom laminierten Führerschein starrte mir ein pickliges Knabengesicht entgegen. Arttu Henrikki Aaltonen, geboren am 21.10.1979.
»Er wird seit der Nacht zum Samstag vermisst, Selbstmord-verdacht«, erklärte ich den uniformierten Kollegen. Mit bloßem Auge entdeckte ich keinen Hinweis auf Fremdverschulden, aber Genaueres würde erst die Obduktion ergeben.
Mikke war nicht mehr an Deck. Ich kletterte aufs Boot, um die Stiefel zurückzubringen, und fand ihn in der Vorderkajüte, wo er auf dem Bett lag und durch die Luke in den Himmel starrte. Sein Gesicht war immer noch farblos.
»Von mir aus kannst du dich jetzt auf den Rückweg machen, ich fahre im Polizeiboot mit. Danke für den Ausflug«, sagte ich leise.
Mikke setzte sich auf und nahm mir die Stiefel ab.
»Wie gewöhnt man sich an so was?«, fragte er bedrückt.
»Verfolgen die Toten dich nicht im Schlaf?«
»Manchmal. Aber wenn man diesen Job machen will, muss man sich daran gewöhnen oder jedenfalls irgendwie damit klarkommen. Du bist kein Profi, und trotzdem ist das für dich schon die zweite Leiche in gut einer Woche. Denk daran, dass du mit diesen Erlebnissen nicht allein fertig zu werden brauchst.«
»Das war doch ein ganz junger Mann. Ist er ermordet worden?«
»Vermutlich Selbstmord«, sagte ich, obwohl ich ihm keine Auskunft hätte geben dürfen.
Mikke stöhnte auf, ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und er presste das Gesicht an meinen Arm. Ich strich ihm über die Haare, und plötzlich zog er mich so fest an sich, dass es wehtat. Wir hielten uns umschlungen, bis ich den Polizeifoto-grafen nach mir rufen hörte. Er brauchte weitere Anweisungen.
»Ich muss gehen. Soll ich die Vorderleine losmachen?«
Mikke nickte und folgte mir an Deck. Wir schauten uns eine Weile an, dann erblickte ich ein Ambulanzboot, das hinter der Inselspitze hervorkam, und ging zur Landestelle hinüber. Vom Felsen aus sah ich, wie Mikke den Motor anließ und durch die schmale Passage nach Suomenoja davontuckerte. Bevor er hinter der Landspitze verschwand, schaute er noch einmal zurück, doch auf mein Winken reagierte er nicht.
Zwölf
Die Aufgabe, Arttu Aaltonens Eltern die Todesnachricht zu überbringen, fiel Puustjärvi und mir zu. Sosehr ich mich auch bemühte, auf Distanz zu bleiben, der Schmerz der Eltern ging nicht spurlos an mir vorüber. Der Junge hatte schon früher mit Selbstmord gedroht, seine Mutter hatte vergeblich versucht, ihn zu einem Gespräch mit einem Psychologen zu
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