Der Wind über den Klippen
eine komplette Idiotin hältst. Juha war …« Sie drückte mein Handgelenk, als wolle sie mich zum Bleiben zwingen. Es erstaunte mich, wie kräftig der Griff dieser zierlichen Frau war. Sie ließ mich erst los, als ich wieder saß.
»Am leichtesten ließ es sich mit Juha leben, wenn man manche Dinge einfach nicht beachtete. Er war furchtbar starrköpfig, seiner Meinung nach gab es nur eine richtige Vorgehensweise, nämlich seine. Und Jiri ist auch nicht anders als alle Männer der Familie Merivaara«, sagte Anne und deutete auf die Porträts an der Wand. »Er ist wie sein Vater und sein Großvater, wenn er es auch nicht zugeben will. Katrina hat Marttis Selbstherrlichkeit nicht ertragen können, deshalb hat sie ihn verlassen. Sie und ich, wir haben gelegentlich überlegt, ob Fredrika, Juhas Mutter, deshalb krank wurde, weil sie in der Ehe ihren eigenen Willen komplett aufgeben musste. Juha ist bei seinem Vater aufgewachsen und sein Ebenbild geworden, deshalb hat er in mir einerseits die Ersatzmutter gesucht, andererseits jemanden, über den er verfügen kann. Als die Kinder noch klein waren, hat er mich oft Mutti genannt und überhaupt nicht begriffen, wieso ich das nicht mochte. Er hat erst damit aufgehört, als Jiri mit sechs Jahren die Bemerkung fallen ließ, ›das ist unsere Mutter, nicht deine‹.«
»Hattest du denn so viel Vertrauen in Juha, dass du ihm erlaubt hast, das Unternehmen nach seinem Willen zu führen?«
»In geschäftlichen Dingen habe ich ihm vertraut, ja. Wieso?
Stimmt mit der Mare Nostrum etwas nicht?«
»Da über die Aktionäre Stillschweigen bewahrt wurde, könnte man das vermuten. Anne, wenn du etwas weißt, dann sag es mir!«
»Ich weiß gar nichts mehr!« Ihre Stimme wurde mindestens eine Quarte höher. »Juha ist tot, und ich versuche das Unternehmen in Gang zu halten, damit wir die Bestellungen ausliefern können! Jiri ist unter die Terroristen gegangen, und Riikka hat plötzlich beschlossen, dass sie Tapsa nicht mehr sehen will.«
»Wie bitte?« Ich erinnerte mich sehr wohl, wie sie Holma nach der Vernehmung stehen gelassen hatte. »Haben sie sich gestritten?«
»Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Riikka ist auch so kom-promisslos. Vielleicht nimmt sie es Tapsa übel, dass er Juha damals, an seinem letzten Abend, angegriffen hat. Riikka ist in mancher Beziehung recht kindlich, es wäre ganz gut, wenn sie sich von Tapsa trennt. Aber ich habe jetzt nicht die Kraft, mir auch ihre Sorgen noch aufzubürden.«
Anne goss sich Kamillentee nach und trank ihn so gierig wie ich am Vortag den Whisky. Auch die Wirkung war ähnlich, sie schien sich zu beruhigen, und ihre Stimme kehrte in die normale Tonlage zurück.
»Ich habe zuerst nicht wahrhaben wollen, dass Juha ermordet wurde, aber allmählich verstehe ich es. Er hatte etwas Zerstöre-risches an sich, auch Jiri hat er damit infiziert. Ich werde Jiri nicht mehr verteidigen, die Gefährdung von Menschenleben kann ich nicht gutheißen. Besser, er bekommt jetzt eine Lehre, bevor …«
Anne trank von ihrem Tee, als wollte sie verhindern, dass ihr der Rest ihres Gedankens entschlüpfte: bevor er wirklich jemanden umbringt. Womöglich befürchtete sie, dass Jiri es bereits getan hatte.
»Und Mikke Sjöberg? Ist er auch so eigensinnig wie sein Vater und sein Bruder?«, fragte ich scheinbar leichthin.
»Mikke ist ein Sjöberg, eher Katrinas Sohn als Marttis. Vielleicht hat er die negativen Eigenschaften der Merivaaras, Egoismus und Starrsinn, an sich entdeckt und lebt deshalb die Hälfte des Jahres als Einsiedler auf seinem Boot. Ich kenne Mikke kaum, er lässt niemanden an sich heran.«
Ich stand auf, und diesmal hielt Anne mich nicht zurück. Als ich die Tür öffnete, kam Paula Saarnio herein.
»Hier ist ein Fax vom Bestattungsinstitut, das Angebot für Sarg und Angebinde. Hast du Zeit, es dir anzuschauen?«
Anne nickte. Ich machte mich auf die Suche nach dem Büro des Finanzdirektors. Auf dem Flur kam mir die Idee, Puustjärvi anzurufen. Er saß bei Marcus Enckell in einem privaten Pflege-heim in Tapiola und berichtete, der alte Herr erinnere sich praktisch nicht an die letzten Jahre, habe aber umso eifriger von der Hochzeit seiner Cousine Fredrika mit Martti Merivaara erzählt.
»Komm hier her. Wir knöpfen uns den Finanzdirektor vor.«
Halonen war knapp unter dreißig, sicher einer derjenigen, die in den Yuppie-Jahren Ende der Achtziger an die Handelshoch-schule geströmt waren, in der Hoffnung auf große Karriere und
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