Der Windsänger
die Hand und gab sich selbst eine Ohrfeige. »Ich selbst bin stumpfsinnig. Zu nichts zu gebrauchen.« Er gab sich eine weitere, diesmal kräftigere Ohrfeige. »Ich bin eine Schande für meine Ahnen.« Er begann sich selbst zu verprügeln – das Gesicht, die Brust und den Bauch. »Ich mache nichts anderes als essen und schlafen, ich bin dick und träge und furchtbar schwerfällig! Ich gehe nirgendwohin und begegne niemandem! Keine Unterhaltungen, kein Spaß! Es wäre besser, tot zu sein, aber ich habe nicht einmal genug Willenskraft, um zu sterben!« Schluchzend schlug er weiter auf sich ein.
»Das tut mir Leid«, antwortete Kestrel. »Aber ich weiß nicht, was ich für Sie tun könnte.«
»Oh, das macht nichts«, sagte der Kaiser und weinte heftig. »Es endet jedes Mal so. Ich bin so schnell übermüdet, weißt du. Am besten ruhe ich mich eine Weile aus.«
Und ohne weitere Umstände kletterte er vollständig angezogen in sein prächtiges Himmelbett, deckte sich zu und schlief sofort ein.
Kestrel blieb erwartungsvoll stehen. Doch nach ein paar Minuten begann er zu schnarchen. Also schlich sie auf Zehenspitzen zu einer der Türen, die zu einer Treppe führten, und stieg vorsichtig die Stufen hinunter, die zusammengerollte Landkarte in der Hand.
8 Familie Hath in Schimpf und Schande
Als Kestrel die Tür erreichte, durch die sie in den Turm gekommen war, blieb sie stehen und spähte durchs Schlüsselloch auf den Hof hinaus. Dort entdeckte sie zwei Konstabler, die ziellos auf und ab schritten. Sie versteckte die Karte in einer Hosentasche, holte tief Luft, öffnete die Tür und brüllte: »Hilfe! Der Kaiser! Hilfe!«
»Was?«, rief der Konstabler, der ihr am nächsten war. »Wo?«
»Oben in seinem Zimmer! Der Kaiser! Schnell, helfen Sie ihm!«
Sie klang so bestürzt, dass die Konstabler keine weiteren Fragen stellten, sondern die Wendeltreppe hinaufeilten, so schnell sie konnten. Sofort rannte Kestrel über den Hof, den langen Flur entlang und schließlich zur Tür hinaus auf den großen Platz mit dem Standbild von Creoth dem Ersten.
Auf dem Rückweg in den Orangefarbenen Bezirk nahm sie enge Gassen und Seitenstraßen und achtete darauf, dass kein Prüfer oder Konstabler sie entdeckte. Doch als sie in ihre Straße einbog, sah sie sofort, dass sie nicht darauf hoffen konnte, sich unbemerkt in ihr Haus zu schleichen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Die meisten Nachbarn lehnten aus den Fenstern und beobachteten das Geschehen. Rechts und links neben der geschlossenen Haustür stand jeweils ein Bezirkskonstabler mit ernstem Gesicht, der seine Dienstmarken befingerte. Die Leute schienen darauf zu warten, dass etwas passierte.
Als Kestrel sich näherte und dabei mit jedem Schritt langsamer wurde, entdeckte Rufy Blesh sie und rannte zu ihr hin.
»Kestrel«, rief er aufgeregt, »du steckst in großen Schwierigkeiten. Und dein Vater auch.«
»Was ist passiert?«
»Er wird auf einen Internatslehrgang geschickt.« Er senkte die Stimme. »In Wirklichkeit ist es eine Art Gefängnis, sagt mein Vater, auch wenn sie es nicht so nennen. Meine Mutter sagt, es ist eine furchtbare Schande, und zum Glück ziehen wir nach Scharlach hinauf, denn nach diesem Skandal werden wir nicht mehr mit euch reden können.«
»Warum redest du dann noch mit mir?«
»Na ja, sie haben ihn ja noch nicht mitgenommen«, antwortete Rufy.
Kestrel ging so nah ans Haus heran, wie sie sich traute, und schlich seitlich daran entlang. Sie lief durch die schmale Gasse, in der die Mülltonnen standen, und gelangte zur Rückseite des Hauses. Durchs Küchenfenster konnte sie ihre Mutter mit Pinpin auf dem Arm auf und ab gehen sehen, aber Bowman war nirgends zu entdecken. Sie sandte ihm einen stillen Ruf zu. Bo! Ich bin wieder da! Sofort spürte sie seine Nähe und seine Erleichterung darüber, dass sie heil und gesund zurückgekehrt war. Kess! Dir ist nichts passiert!
Er erschien am Fenster ihres Zimmers und schaute heraus. Sie zeigte sich.
Pass auf, dass sie dich nicht sehen, Kess. Sie sind gekommen, um dich zu holen. Und sie wollen Papa mitnehmen.
Ich komme rein, antwortete Kestrel. Ich muss mit Papa reden.
Bowman entfernte sich vom Fenster und lief ins Wohnzimmer hinunter, das zur Straße hinausging. Sein Vater stand mitten im Raum und packte einen Koffer. Dr. Batch, der Klassenlehrer der Zwillinge, saß auf dem Sofa neben einem ranghohen Mitglied der Prüfungskommission, Dr. Minish.
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