Der Windsänger
Beide Männer hatten verbissen strenge Mienen aufgesetzt. Dr. Batch zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf.
»Wir haben schon eine halbe Stunde Verspätung«, verkündete er. »Und wir wissen überhaupt nicht, wann das Mädchen zurückkommt. Ich schlage vor, wir schreiten zur Tat.«
»Sie haben die Bezirkswache sofort zu verständigen, wenn sie nach Hause kommt«, erklärte Dr. Minish.
»Aber dann bin ich doch gar nicht mehr hier«, antwortete Hanno Hath leise.
»Nun machen Sie schon, Sir.« Dr. Batch ärgerte sich darüber, wie dieser Kerl dastand und zerstreut auf das Durcheinander aus Kleidern und Büchern auf dem Fußboden blickte.
»Vergiss dein Waschzeug nicht, Papa«, sagte Bowman.
»Mein Waschzeug?« Hanno Hath blickte seinen Sohn an.
Bowman hatte ihm vor einer halben Stunde selbst seine Zahnbürste und seinen Rasierapparat nach unten gebracht.
»Im Badezimmer«, fügte Bowman hinzu.
»Im Badezimmer?« Er begriff. »Ach so, ja.«
Dr. Minish verfolgte diese Unterhaltung aufgebracht. »Na, dann holen Sie die Sachen, Mann.«
»Ja, schon gut.«
Hanno Hath ging die Treppe zum Badezimmer hinauf. Ira Hath kam mit Pinpin auf dem Arm ins Wohnzimmer. Pinpin spürte die gespannte Stimmung im Haus und wimmerte leise.
»Würden Sie gern etwas trinken, während Sie warten?«, fragte Mrs. Hath die beiden Männer.
»Vielleicht ein Glas Limonade, falls Sie welche haben«, antwortete Dr. Minish.
»Mögen Sie Limonade, Dr. Batch?«
»Ja, Madam. Sehr gern.«
Mrs. Hath ging zurück in die Küche.
Oben im Badezimmer fand Hanno Hath seine Tochter vor, die auf ihn wartete. Er nahm sie in die Arme und küsste sie erleichtert.
»Meine allerliebste Kess. Ich hatte das Schlimmste befürchtet.«
Mit leiser Stimme erzählte sie ihm von der Spezialschulung und er stöhnte laut auf.
»Lass dich niemals dort hinbringen.«
»Warum? Was passiert dort?«
Doch er schüttelte nur den Kopf und wiederholte: »Lass dich nie dort hinbringen.«
Dann erzählte sie ihm von dem Mann, der sich ihr als der Kaiser vorgestellt hatte.
»Der Kaiser? Du hast den Kaiser getroffen?«
»Er hat mich beauftragt die Stimme des Windsängers zu holen. Und er hat mir das hier gegeben.«
Sie zeigte ihm die Karte. Er entrollte sie und betrachtete sie mit Erstaunen. Seine Hand, die die steife, alte Rolle hielt, zitterte.
»Kess, das ist ja unglaublich…«
»Er hat mir gesagt, dass es den Morah wirklich gibt und dass er uns alle beherrscht.«
Ihr Vater nickte nachdenklich. »Dies ist in der alten Manth-Schrift geschrieben. Die Karte wurde vom Sänger-Volk gemacht.«
»Wer war das Sänger-Volk?«
»So genau weiß ich das nicht, ich weiß nur, dass es vor langer Zeit gelebt und den Windsänger gebaut hat. Oh, Kess, liebste Kess. Wie soll ich ihnen nur entwischen? Und was werden sie mit dir machen?«
Inzwischen war Kestrel von seiner Aufregung angesteckt worden. Sie klammerte sich an seinen Arm, als wollte sie nicht zulassen, dass er irgendwo ohne sie hinginge.
»Also ist es wahr?«
»Ja, es ist wahr, ich weiß es. Ich kann die alte Manth-Schrift lesen. Hier, das hier heißt Der Große Weg. Und das Riss-im-Land. Und das Hallen des Morah. Und das Ins Feuer.« Er drehte die Karte um und betrachtete die Schrift auf der Rückseite und das seltsame S daneben. »Das ist das Zeichen des Sänger-Volkes.«
»Der Kaiser hat gesagt, das sei die Stimme des Windsängers.«
»Dann muss sie die Form ihres Zeichens haben.« Er studierte sorgfältig die alte Schrift, entzifferte Wort für Wort und las langsam vor. »Der Gesang des Windsängers… wird euch befreien. Dann kehrt…in die Heimat zurück.« Mit leuchtenden Augen sah er Kestrel an. »Oh, Kess. Wenn ich nur weg könnte…« Er begann im winzigen Badezimmer auf und ab zu gehen. Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, die er nach einem Aufflackern von Hoffnung mit einem frustrierten Kopfschütteln wieder verwarf. »Nein… Sie würden Ira mitnehmen und die Kinder…« Er schauderte. »Am besten arbeite ich mit ihnen zusammen. Meine Strafe ist nicht so hart. Ich muss bis zur nächsten Großen Prüfung an einem Lehrgang teilnehmen.«
»Lehrgang! Ins Gefängnis gehen, meinst du wohl.«
»Schon gut«, antwortete ihr Vater sanft. »Es wird mir schon nicht schaden. Wenn ich hart arbeite, schneide ich vielleicht bei der nächsten Großen Prüfung besser ab, und dann werde ich sie um eine zweite Chance für
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