Der Windsänger
aus nachblickte, nahm er mit einem Mal deutlich die Gefühle seines Vaters wahr. Er spürte, wie stark die Liebe seines Vaters zu ihnen allen war – wie warm, innig und unerschöpflich. Und er spürte einen stummen verzweifelten Aufschrei, der in Worte gefasst lauten würde: Muss ich euch für immer verlassen?
Auch Rufy Bleshs Vater hatte das Lächeln und das trotzige Winken gesehen. Bowman hörte, wie er zu seiner Frau sagte: »Er kann lächeln, so viel er will, seine Familie wird er nie wiedersehen.«
Da beschloss Bowman tief in seinem Innern, dass er alles daransetzen würde, seinen Vater zurückzuholen, dass er ganz Aramanth zerstören würde, wenn es sein müsste.
Denn was war denn schon ein ganzes Leben in dieser ordentlichen, geregelten Welt im Vergleich zu dem tapferen, liebevollen Lächeln seines Vaters in diesem kurzen Augenblick?
9 Flucht aus Aramanth
An diesem Abend stellten sich Wächter vor und hinter dem Haus auf, um Kestrel abzufangen, wenn sie nach Hause käme. Denn sie waren sich sicher, dass sie genau das tun würde, sobald es dunkel war. Kestrel war natürlich schon längst im Haus und hielt sich von den Fenstern fern. Als es schließlich dämmerte und die Vorhänge zugezogen werden konnten ohne Verdacht zu erregen, durfte sie sich freier bewegen.
Ira Hath wollte nicht weinen oder in Panik geraten. Immer wieder und mit großer Überzeugung sagte sie: »Euer Vater wird zu uns zurückkehren«, bis die Zwillinge es irgendwann beinahe selbst glaubten. Ira fütterte und badete Pinpin wie an jedem anderen Tag. Dann rückte sie mit ihren drei Kindern zum Wunschkreis zusammen, obwohl es ohne Hanno irgendwie verkehrt wirkte. Doch sie wünschten sich alle, dass er wieder nach Hause käme, und dadurch kam es ihnen so vor, als ob er bei ihnen wäre. Wie jeden Tag legte Ira Pinpin in ihr Bettchen. Und erst als Pinpin eingeschlafen war, setzte sie sich mit den Zwillingen zusammen. Sie faltete die Hände im Schoß und sagte zu Kestrel: »Erzähl mir alles.«
Also berichtete Kestrel alles, was ihr passiert war und was ihr Vater gesagt hatte. Dann zog sie die Karte hervor und schrieb neben jede Zeile kritzeliger Buchstaben die Übersetzung ihres Vaters, damit sie ja nichts vergaß: Der Große Weg, Riss-im-Land, Die Hallen des Morah, Ins Feuer.
Auf der Rückseite der Karte schrieb sie neben die alte Schrift: Der Gesang des Windsängers wird euch befreien. Dann kehrt in die Heimat zurück.
»Ach, die Heimat«, seufzte Ira Hath. »Dieser Ort sollte niemals unsere wahre Heimat sein.«
»Wo ist die Heimat?«
»Wer weiß? Wir werden es wissen, wenn wir sie finden.«
»Warum?«
»Na, weil wir uns dort wie zu Hause fühlen werden.« Sie betrachtete die Karte noch eine Weile und rollte sie dann wieder auf. »Was immer es damit auf sich hat, wir warten lieber damit, bis euer Vater zurückkommt«, entschied sie. »Jetzt müssen wir uns erst mal überlegen, was wir mit dir machen.«
»Kann ich mich nicht hier im Haus verstecken?«
»Ich fürchte, wir werden nicht mehr lange hier bleiben dürfen, Kestrel.«
»Ich werde nicht mit ihnen gehen. Auf gar keinen Fall.«
»Aber nein. Wir müssen dich verstecken. Ich werde mir etwas ausdenken.«
Von den Aufregungen des langen Tages waren sie alle erschöpft, Kestrel ganz besonders. Deshalb beschloss Ira alles Weitere am nächsten Morgen zu besprechen. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, wie schnell sie bestraft werden sollten.
Die Sonne war kaum aufgegangen, als sie von einem lauten Hämmern an der Haustür geweckt wurden.
»Los! Aufstehen! Zeit zum Aufbruch!«
Mrs. Hath öffnete ihr Schlafzimmerfenster und lehnte sich hinaus, um nachzusehen, was los war. Ein Trupp Konstabler stand auf der Straße.
»Sachen zusammenpacken!«, brüllte einer von ihnen. »Sie ziehen aus!«
Man hatte den Haths eine neue Wohnung zugewiesen: nicht in Kastanienbraun, wie sie erwartet hatten, sondern im Grauen Bezirk. Ihr neues Zuhause würde ein einziges Zimmer in einem zehnstöckigen Hochhaus sein, in dem dreihundert Familien wohnten. Ihr Haus im Orangefarbenen Bezirk sollten sie spätestens gegen Mittag an eine andere Familie übergeben.
Ira Hath ließ sich nicht unterkriegen. »Da werden wir weniger zu putzen haben«, meinte sie und weckte Pinpin.
Nun musste schnell entschieden werden, was mit Kestrel geschehen sollte. Die Konstabler suchten noch immer nach ihr und hatten sich vor und hinter dem Haus postiert. Wie sollten die
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