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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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sich zu Bowman um. Er nickte ihr kurz zu, schlüpfte an ihr vorbei und blieb vor der Haustür stehen. Dann ging er auf den beladenen Karren zu, zeigte aber plötzlich irgendwo in die Menge und rief: »Kess!« 
    Alle drehten sich um und sahen ein Kind in Mantel und Kapuze am anderen Ende der Straße stehen. »Lauf, Kess, lauf!«, schrie Bowman. Das Kind drehte sich um und lief davon. 
    »Kess!« 
    Sofort rannten die Konstabler und Wächter dem Kind hinterher. Sämtliche Nachbarn eilten die Straße hinunter, weil sie sehen wollten, wie das Kind gefasst wurde. 
    Kestrel schlich sich aus der Haustür und wäre völlig unbemerkt entkommen, wenn Pinpin sie nicht gesehen und erfreut »Kess!« gerufen hätte. Der Letzte der Wächter hatte gerade die Kisten auf dem Karren festgezurrt, als alle die Verfolgung aufgenommen hatten. Er hörte Pinpin, drehte sich um und sah Kestrel gefolgt von Bowman durch die schmale Gasse flüchten. 
    »Da is sie! Ich hab sie gesehn!«, brüllte er und stolperte ihnen nach. 
    Die Kinder waren schneller als der Wächter und hatten bald einen Vorsprung. Doch sie hatten keine Ahnung, welche Richtung sie einschlagen sollten. Es war nur darum gegangen, Kestrel aus dem Haus herauszuholen. Danach mussten sie auf ihren Instinkt und ihr Glück vertrauen. 
    Sie blieben stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und entdeckten eine Nische, in der Mülltonnen standen. Sicherheitshalber gingen Bowman und Kestrel dahinter in Deckung. 
    »Wir müssen die Stadt verlassen«, sagte Kestrel. 
    »Aber wie? Wir haben keine Ausweise. Ohne Ausweise werden sie die Tore nicht öffnen.« 
    »Da führt ein Weg durch die Salzhöhlen. Ich hab ihn gesehen. Ich weiß bloß nicht, wie wir in die Salzhöhlen hineinkommen.« 
    »Hast du nicht gesagt, die Höhlen werden für die Kanalisation benutzt?«, fragte Bowman. 
    »Ja.« 
    »Dann müssen doch alle Abwasserkanäle dort hinführen.« 
    »Bo, du bist genial!« 
    Sie ließen den Blick über die Straße schweifen und entdeckten ein paar Schritte entfernt einen Gullydeckel. Gleichzeitig hörten sie die Rufe ihrer Verfolger in der Ferne. Sie suchten die Straßen nach ihnen ab. 
    »Sie kommen näher.« 
    »Bist du sicher, dass wir aus den Salzhöhlen auch wieder herauskommen?« 
    »Nein.« 
    Ein Wächter erschien am anderen Ende der Straße. Sie hatten keine Wahl. Also rannten sie auf den Gullydeckel zu. 
    Er war aus Eisen und sehr schwer. In der Mitte befand sich ein Ring, an dem man den Deckel hochziehen konnte. Das allein war schon nicht einfach, denn das Scharnier, an dem der Ring angehoben wurde, war eingerostet. Doch schließlich schafften sie es gerade eben so, ihre Finger hindurchzustecken. Inzwischen hatte der Wächter sie aber entdeckt und schlug Alarm. 
    »Hier sind sie! Hierher, alle Mann! Ich hab sie gefunden!« 
    Die Angst machte sie stark. Gemeinsam zogen sie und der Deckel bewegte sich. Zentimeter für Zentimeter zogen sie ihn vom Loch herunter, bis sie sich in den Schacht zwängen konnten. Eisensprossen ragten aus der gemauerten Wand, eine Art Leiter führte in die Tiefe, aus der das Rauschen von Wasser heraufdrang. 
    Kestrel ging zuerst und Bowman folgte ihr. Er versuchte den Deckel wieder über das Loch zu ziehen, doch es wollte ihm nicht gelingen. 
    »Lass doch«, sagte Kestrel. »Wir müssen weg.« 
    Also kletterte auch Bowman die Leiter hinunter und stieg unten in das trübe Wasser. Er musste Acht geben, wohin er trat, und konnte sich deshalb nicht umdrehen – sonst hätte er den Schatten bemerkt, der über den offenen Gully fiel. 
    »Es geht schon«, sagte Kestrel. »Das Wasser ist nicht tief. Wir müssen einfach nur der Strömung folgen.« 
    Bis an die Knöchel im Wasser, wateten sie durch den finsteren Tunnel. Eine lange Zeit – so kam es ihnen zumindest vor – stapften sie in gleichmäßigem Tempo voran. Bowman sagte nichts, doch er fürchtete sich vor der Dunkelheit. Sie hörten viele seltsame Geräusche um sich herum: Gluckern und Tropfen und das Echo ihrer eigenen Schritte. Sie kamen an anderen Kanälen vorbei, aus denen Wasser in ihren Tunnel floss, und sie spürten, dass der Tunnel mit jedem Schritt weiter wurde. 
    Dann hörten sie zum ersten Mal ein Geräusch, das nicht vom Wasser selbst herrührte – ein unverkennbares Geräusch hinter ihnen: spritz, spritz, spritz. Jemand folgte ihnen. 
    Sie gingen schneller. Das Wasser war tiefer geworden und riss an ihren Beinen. Vor ihnen war ein schwaches Licht zu sehen und ein

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