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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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dumpfes Donnern kam aus derselben Richtung. Von hinten näherten sich die gleichmäßigen Schritte ihres Verfolgers. 
    Plötzlich endete der Tunnel in einer langen Höhle, durch deren Mitte ein Fluss strömte. Das Licht, das die glitzernden Höhlenwände schwach erleuchtete, kam aus einem Loch auf der anderen Seite der Höhle, durch das der Fluss verschwand. Das Wasser aus dem Tunnel lief in den Fluss ab und so standen sie unversehens auf einer glatten, trockenen Felsbank. 
    Fast zur gleichen Zeit spürte Bowman, dass etwas Schreckliches ganz in ihrer Nähe war. 
    »Wir können hier nicht bleiben«, sagte er. »Wir müssen schnell weiter.« 
    »Nach Hause«, antwortete eine tiefe Stimme. »Geht nach Hause.« 
    Kestrel zuckte zusammen und blickte in die Dunkelheit. »Bo? Warst du das?« 
    »Nein«, entgegnete Bowman und zitterte heftig. »Hier ist noch jemand.« 
    »Nur ein Freund«, sagte die tiefe Stimme. »Ein Freund in der Not.« 
    »Wo denn?«, fragte Kestrel. »Ich kann dich nicht sehen.« 
    Zur Antwort hörten sie das Zischen eines Streichholzes und sahen eine brennende Fackel im hohen Bogen durch die Luft fliegen und nicht weit von ihnen entfernt auf den Boden fallen. Dort blieb sie knisternd liegen. Eine kleine weißhaarige Gestalt trat aus der Finsternis. Mit den langsamen Schritten eines kleinen alten Mannes näherte sie sich dem flackernden Licht und Kestrel und Bowman sahen einen Jungen, der in ihrem Alter sein musste – nur war sein Haar ganz weiß und seine Haut runzlig und ausgedörrt. Er blieb stehen und blickte sie fest an. Dann sagte er: »Jetzt könnt ihr mich sehen.« 
    Er sprach mit der tiefen Stimme, die sie zuvor gehört hatten, der Stimme eines alten Mannes. Da diese müde, raue Stimme jedoch aus einem Kindermund kam, wirkte sie besonders furchteinflößend. 
    »Die alten Kinder«, stellte Kestrel fest. »Die, die ich schon gesehen habe.« 
    »Wir hatten uns so darauf gefreut, dass du in unsere Klasse kommst«, sagte der weißhaarige Junge. »Aber wie heißt es noch? Ende gut, alles gut. Folgt mir, dann führe ich euch zurück.« 
    »Wir gehen nicht zurück«, entgegnete Kestrel. »Ihr wollt nicht zurück?« Die einschmeichelnde Stimme ließ Kestrels trotzige Antwort kindisch klingen. »Versteht ihr denn nicht? Ohne meine Hilfe werdet ihr hier nie herausfinden. Ihr werdet hier sterben.« 
    Aus der Dunkelheit schallte Gelächter herüber. Der weißhaarige Junge lächelte. 
    »Meine Freunde finden das lustig.« Und dann traten weitere Kinder aus dem Dunkeln ins Licht, eines nach dem anderen: Einige hatten weißes Haar wie der Junge, andere Glatzen, und alle waren vorzeitig gealtert. Zuerst schienen es nur ein paar zu sein, doch es schlurften immer mehr aus der Finsternis heran – erst zehn, dann zwanzig, dann dreißig und mehr. Bowman sah sie erstaunt an und zitterte. 
    »Wir sind eure kleinen Helfer«, sagte der weißhaarige Junge. Wieder lachten die alten Kinder, das tiefe, grollende Lachen von Erwachsenen. »Ihr helft uns und wir helfen euch. Das ist doch gerecht, oder?« Er machte einen Schritt auf die Zwillinge zu und streckte die Hand aus. »Kommt mit.« 
    Hinter ihm näherten sich die anderen Kinder mit kleinen, schlurfenden Schritten. Auch sie streckten die Hände aus. Aggressiv schienen sie nicht zu sein, nicht einmal neugierig. 
    »Meine Freunde wollen euch streicheln«, erklärte der Anführer. Seine Stimme klang tief, sanft und weit weg. 
    Bowman hatte solche Angst, dass er nur an Flucht denken konnte. Er machte einen Schritt zurück, um den zitternden Armen zu entkommen. Doch hinter ihm war der Fluss, der auf das unterirdische Loch zuströmte. Die alten Kinder schlurften näher heran und Bowman spürte, wie eine Hand über seinen Arm strich. Dabei durchlief ihn ein ungewohntes Gefühl: Ihm war, als würde ihm ein Teil seiner Kraft aus dem Körper gesogen, und er wurde schläfrig und fühlte sich erschöpft. 
    Kess!, rief er seiner Schwester in Gedanken verzweifelt zu. Hilf mir! 
    »Lasst ihn in Ruhe!«, schrie Kestrel. 
    Mutig machte sie einen Satz nach vorn und holte mit einem Arm aus, um den weißhaarigen Jungen zu Boden zu stoßen. Doch als ihre Faust seinen Körper berührte, spürte sie, wie ihre Kraft nachließ und ihr Arm erschlaffte. Sie versuchte es ein zweites Mal und merkte, dass sie noch schwächer wurde. Die Luft um sie herum schien dick und breiig zu werden, Geräusche wurden undeutlich und schienen von weither zu kommen. 
    Bo! rief sie.

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