Der Windsänger
Haths ausziehen, ohne dass Kestrel entdeckt wurde?
Es dauerte nicht lange, bis zwei Wächter mit einem leeren Karren die Straße herunterkamen, in dem das Hab und Gut der Familie Hath in den Grauen Bezirk gebracht werden sollte. Inzwischen waren auch die Nachbarn aufgestanden. Viele von ihnen waren aus ihren Häusern gekommen, um das interessante Schauspiel zu verfolgen, das bald seinen Anfang nehmen würde.
»Es wird Tränen geben. Die Mutter wird schluchzend aus dem Haus kommen. Das ist immer so, wenn Leute herabgestuft werden. Aber die Neuen, oh, die werden lächeln.«
»Was ist mit dem Baby? Haben die nicht ein Baby? Das arme Ding wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht.«
»Aber diese Zwillinge, die haben es faustdick hinter den Ohren, alle beide.«
»Haben Sie gehört, was das Mädchen gemacht hat? Ich wusste ja gleich, dass die nur Unsinn im Kopf hat.«
»Na, jetzt wird es ihr Leid tun.«
Im Haus überlegten die Haths, ob sie Kestrel in der großen Truhe hinausschmuggeln sollten, in der die Decken verstaut waren. Bowman spähte durchs Fenster zu den Konstablern, Wächtern und Nachbarn hinaus und schüttelte den Kopf.
»Es ist zu riskant.« Da bemerkte er eine kleine Gestalt hinten in der Menge. Mumpo. Er schlich herum und hatte den Blick hoffnungsvoll auf die Haustür geheftet. Offenbar wartete er auf Kestrel. »Da draußen ist Mumpo«, sagte Bowman.
»Doch nicht unser stinkender Mumpo«, antwortete Kestrel.
»Ich hab eine Idee.« Bowman ging zum Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer und holte Kestrels Wintermantel heraus, ein langes orangefarbenes Cape mit Kapuze. Er rollte es fest zusammen und stopfte es sich vorn in die Jacke. »Ich gehe raus und spreche mit Mumpo«, erklärte er. »Unternehmt nichts, bevor ich zurückkomme.«
»Aber Bo…«
Und weg war er.
»Seid ihr fertig?«, rief einer der grau gekleideten Wächter, als Bo aus dem Haus trat.
»Noch nicht«, antwortete Bowman und marschierte an ihm vorbei auf die Straße. »Meine Mutter stellt sich sehr pingelig an beim Packen.«
Er rannte die Straße hinunter, um nicht mit den neugierigen Nachbarn sprechen zu müssen, und blieb erst hinter einer Straßenecke stehen. Wie er vorhergesehen hatte, tauchte Mumpo kurz darauf auf – keuchend und mit laufender Nase.
»Bo!«, rief er. »Was ist los? Wo ist Kess?«
»Willst du ihr helfen?«
»Ja, ich helfe ihr. Wo ist sie?«
Bowman zog das orangefarbene Cape hervor und breitete es aus. »Pass auf, was du machen musst.«
Bowman war schon eine gute Stunde wieder im Haus, als seine Mutter die Tür öffnete und den Wächtern sagte, sie könnten nun die Kisten hinaustragen. Zum Erstaunen der Wächter waren sie im oberen hinteren Schlafzimmer gepackt worden – in dem Zimmer, das am weitesten von der Tür entfernt war.
»Warum haben Sie nicht im Flur gepackt? Diese fatzige Treppe ist schließlich keine Kleinigkeit.«
Um das Durcheinander noch zu steigern, erschien die Familie Warmish, die in das Haus einziehen sollte, viel zu früh mit ihren beiden schwer beladenen Karren. Natürlich brannten die Leute darauf, ins Haus zu kommen und sich umzusehen. Doch Ira Hath postierte sich in der Tür, so dass sie nicht vorbei konnten, und lächelte sie unerbittlich an.
»Wie groß ist die Küche?«, wollte Mrs. Warmish wissen. »Ist es eher eine Wohnküche oder eine mit einem kleinen Ausziehtisch?«
»Oh, sie ist ziemlich geräumig«, antwortete Mrs. Hath. »An den Küchentisch kriegt man sechsunddreißig Personen, wenn es sein muss.«
»Sechsunddreißig? Lieber Himmel! Sind Sie sicher?«
»Und wenn Sie erst das Badezimmer sehen! Bei uns haben mal acht Erwachsene gleichzeitig gebadet und jeder hatte genug Platz, um sich auszustrecken und unterzutauchen.«
»Meine Güte!« Mrs. Warmish war so verblüfft über diese Information, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Also kam sie auf das Wenige zu sprechen, das sie hinter Mrs. Haths breitem Rücken erkennen konnte. »Ist der Fußboden gewachst oder lackiert?«
»Lackiert?«, wiederholte Mrs. Hath höhnisch. »Reines Bienenwachs, sag ich Ihnen, wie in allen besseren Häusern.«
Die Kisten wurden nacheinander auf den Karren gewuchtet. Die Möbel mussten dableiben, weil die neue Wohnung sehr viel kleiner sein würde. Nachdem die letzte Kiste aus dem Haus getragen worden war, nahm Mrs. Hath, die sich noch immer der ungeduldigen Familie Warmish in den Weg stellte, Pinpin auf den Arm und drehte
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