Der Windsänger
Luft. Bowman gefiel dieser Vergleich, weil er nichts Mitleidiges hatte. Plötzlich wurde ihm klar, dass sein Mitleid für Mumpo nur eine Art Gleichgültigkeit gewesen war. Warum hatte er nicht mehr Interesse für ihn zeigen können? Eigentlich war Mumpo so etwas wie ein Rätsel. Wo kam er her? Warum hatte er keine Familie? In Aramanth hatte schließlich jeder eine Familie.
»Mumpo…«, begann er.
»Froh, froh, froh«, trällerte Mumpo.
Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm Fragen zu stellen. Also wanderten sie weiter und Mumpo sang und lachte den ganzen Weg zum Palast.
12 Erinnerungen einer Königin
Während sie sich dem Palast näherten, fiel ihnen auf, dass ein sehr merkwürdiges Geräusch aus dem Innern kam. Ein plappernd quieksendes Glucksgeräusch. Außerdem waren eine Menge trappelnder Schritte und Stimmen zu hören, die »Lass das!« und »Runter da!« brüllten. Was immer da drinnen vor sich ging, wurde von einem Bretterzaun verborgen, in dem es nur eine Tür gab.
Sogar Mumpo wurde neugierig, hörte auf zu singen und lauschte stattdessen. Kestrel fand das äußerst wohltuend.
»Jetzt reiß dich mal zusammen, Mumpo. Wir gehen jetzt zur Königin. Sie ist die wichtigste Person hier, deshalb müssen wir uns sehr respektvoll benehmen.«
Kestrel klopfte an die Tür. Ziemlich bald wurde ihr klar, dass niemand bei diesem Lärm ihr Klopfen hören konnte. Also machte sie die Tür selber auf.
Dahinter lag ein großer offener Platz voller schlammiger kleiner Kinder: Winzige Säuglinge lagen auf Matten, krabbelnde Babys wuselten wie kleine Hunde umher, tapsende Kleinkinder fielen übereinander, es gab Kinder, die gerade erst richtig laufen konnten, und welche, die mit gellendem Geschrei herumrannten. Alle waren ganz nackt, obwohl sie natürlich von Schlamm bedeckt waren. Und es schien ihnen prächtig zu gehen. Immer wieder rempelten sie sich auf chaotischste Weise an und trampelten übereinander hinweg, doch aus irgendeinem Grund tat sich niemand ernstlich weh oder beklagte sich sonstwie. Die Kinder rappelten sich einfach immer wieder auf und liefen weiter.
Mitten in dieser wuselnden Menge von Kleinkindern saßen ein paar sehr dicke alte Damen wie Felsen in einer stürmischen See. Die Babys kletterten über sie hinweg und um sie herum, als wären sie tatsächlich aus Stein. Ab und zu streckte eine der alten Damen schützend einen Arm aus oder rief etwas zur Warnung, aber meistens taten sie überhaupt nichts.
Beim Anblick dieses Wirrwarrs wussten die Zwillinge nicht, was sie tun sollten. In der Mitte des eingezäuntenGebiets entdeckten sie eine breite Öffnung mit einer Treppe, die anscheinend zu unterirdischen Räumen führte, und sie vermuteten, dass sie die Königin dort finden würden. Aber sie würden nach ihr fragen müssen.
Kestrel ging auf eine alte Dame zu.
»Entschuldigen Sie, Madam«, begann sie. »Wir kommen, weil wir die Königin sehen möchten.«
»Natürlich«, antwortete die alte Dame.
»Könnten Sie uns bitte sagen, wohin wir gehen müssen?«
»An eurer Stelle würde ich nirgendwohin gehen«, gab die alte Dame zurück.
»Könnten wir dann vielleicht zur Königin gebracht werden?«
»Warum, ich bin doch die Königin«, erwiderte sie. »Zumindest eine von ihnen.«
»Oh«, sagte Kestrel und lief dunkelrot an. »Gibt es hier sehr viele Königinnen?«
»Ziemlich viele, ja. Alle diese Damen hier und noch eine Menge andere.« Als sie Kestrels verwirrtes Gesicht sah, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Macht euch keine Gedanken darüber, kleine Schmächtis. Sagt mir einfach, was ihr wollt.«
»Wir wollen mit der Alten Königin sprechen.«
»Ach so, mit der Alten Königin!«
In diesem Moment fielen die drei Kleinkinder herunter, die auf ihren Rücken geklettert waren, und fingen an zu weinen. Die Königin stellte sie wieder auf die Beine, tätschelte sie und sagte: »Bald ist Schlafenszeit. Ich bringe euch zur Alten Königin, wenn alle im Bett sind. Dann ist es ruhiger.«
Kurz darauf läutete eine Glocke. Alle alten Damen erhoben sich schwerfällig und scheuchten die Kinder die breite Treppe hinunter. Bowman, Kestrel und Mumpo folgten ihnen mehr oder weniger unbemerkt. Die Wirkung der Tixablätter ließ allmählich nach und Mumpo war still geworden.
Am Fuß der Treppe lag ein höhlenähnlicher Raum, wie sie ihn bereits kannten, nur war dieser hier sehr viel größer als Willums Behausung. Er war so groß, dass man Säulen aus
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