Der Windsänger
harter Erde hatte stehen lassen, die das Dach stützten. Diese Säulenreihen ließen den Raum unendlich lang erscheinen, Nische folgte auf Nische bis in die düstere Ferne.
Die Kleinkinderschar wurde auf die einfachste Weise zu Bett gebracht. Wie in Willums Höhle war der Boden dick mit weichen Decken ausgelegt. Die Kinder kuschelten sich in Grüppchen zusammen und brummelten und quietschten vor sich hin. Die dicken alten Damen stapften zwischen ihnen herum, tätschelten, streichelten und rückten hier und da ein Kind zurecht, steckten Windeln fest, wo es nötig war, und deckten die Babys zu. Größtenteils ließen sie die Kinder so liegen, wie sie es wollten. Dann setzten die Alten sich um sie herum und sangen ihnen mit krächzenden Stimmen ein Schlaflied. Der Gesang erfüllte die riesige Höhle und lullte alle in dem großen Nest ein.
Mumpo klagte, dass er ein komisches Gefühl im Kopf habe. Dann betrachtete er die schlafenden Babys, gähnte herzhaft und sagte, er wolle sich auch einen Augenblick hinsetzen. Bevor ihn die Zwillinge davon abhalten konnten, hatte er sich zwischen den Babys zusammengerollt und war fest eingeschlafen.
In erstaunlich kurzer Zeit herrschte Stille – falls man es Stille nennen kann, wenn die Luft von Hunderten winziger Atemzüge erzittert. Die alte Dame, die mit den Zwillingen gesprochen hatte, drehte sich zu ihnen um und gab ihnen ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie gingen zwischen den Säulen entlang bis an das andere Ende des Raumes.
Unterwegs erzählte die alte Dame ihnen, dass sie Königin Num sei, und sie sollten bloß nicht denken, dass die Babys jede Nacht im Palast schliefen. An gewöhnlichen Tagen hüteten die Königinnen sie nur tagsüber. Aber heute sei Erntetag und da feierten die Leute bis spät in die Nacht. Kestrel sagte, sie finde es ungewöhnlich, dass Königinnen auf Babys aufpassten. Da lachte Königin Num und entgegnete: »Wozu sind Königinnen denn sonst zu gebrauchen? Wir sind man zu alt, um auf den Feldern zu arbeiten, wisst ihr.«
Am anderen Ende des langen unterirdischen Saals trafen sie auf eine Gruppe noch älterer Damen, die mit leeren Blicken um ein Feuer herum saß. Eine dieser Damen war so alt, dass sie kaum noch lebendig wirkte. Zu ihr führte Königin Num die Zwillinge.
»Bist du wach, meine Liebe?«, fragte sie überdeutlich. Und zu den Zwillingen sagte sie: »Das ist die Alte Königin. Sie hört nicht besonders gut.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann antwortete das verhutzelte Weiblein mit einem mürrischen schwachen Stimmchen: »Natürlich bin ich wach. Ich habe seit Jahren nicht geschlafen. Ich wünschte, ich könnte es.«
»Ich weiß, meine Liebe. Das ist sehr anstrengend für dich.«
»Was weißt du schon davon?«
»Hier sind zwei junge Schmächtis, die mit dir reden möchten, meine Liebe. Sie wollen dir man ein paar Fragen stellen.«
»Aber keine Rätsel, oder?«, fragte sie grimmig. Die Alte Königin schien die Zwillinge noch nicht bemerkt zu haben, obwohl sie genau vor ihr standen. »Rätsel langweilen mich.«
»Ich glaube nicht, dass es um Rätsel geht«, versicherte ihr Königin Num. »Ich glaube, es geht um Erinnerungen.«
»Ach, Erinnerungen«, sagte die Alte Königin abfällig. »Davon hab ich zu viele.« Plötzlich richtete sie ihre vogelartigen Augen auf Kestrel. »Ich bin tausend Jahre alt. Glaubst du das?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Kestrel.
»Stimmt. Es ist gelogen.« Sie brach in ein langsames, trocken gackerndes Gelächter aus. Dann erstarb das Lachen und ihr Gesicht nahm wieder verbissene Züge an. »Ihr könnt jetzt gehen«, sagte sie.
»Bitte, meine Liebe, möchtest du nicht ein bisschen mit ihnen reden?«, fragte Königin Num. »Sie kommen von weit her.«
»Umso dümmer von ihnen. Sie hätten zu Hause bleiben sollen.«
Sie schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Königin Num drehte sich mit einem hilflosen Achselzucken zu den Zwillingen um.
»Tut mir Leid. Wenn sie in dieser Stimmung ist, kann man nichts ausrichten.«
»Darf ich mit ihr reden?«, fragte Bowman.
»Ich glaube nicht, dass sie dir antworten wird.«
»Das macht nichts.«
Bowman setzte sich neben die Alte Königin auf den Boden, schloss ebenfalls die Augen und lenkte seine Gedanken auf sie. Nach kurzer Zeit begann er ihre Gedanken wie gemächlich summende Winterfliegen zu spüren. Er fühlte ihr wütendes Murren, die alte Trauer und eine dumpfe, zermürbende Müdigkeit. Doch er
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