Der Windsänger
merkte er sich die Stelle.
»Mumpo, gib mir dein Schwert!«, rief er.
Mumpo zog sein Schwert aus der Scheide und Bowman rammte es fest in die Erde.
»Alle Steine, die wir finden, müssen hierher!«, verkündete er und häufte Steine hinter dem Schwert an.
In der Zwischenzeit schnallte Mumpo seinen Schwertgurt ab und schälte sich aus seiner weißen Jacke. Dann zog er die hohen schwarzen Stiefel und die weiße Reithose mit den goldenen Biesen aus. Seine ausgeblichene orangefarbene Kleidung kam wieder zum Vorschein. Als er sich der Sarenuniform ganz entledigt hatte, zog er die Stiefel wieder an. Dann nahm er das Bündel blutbefleckter weißer Sachen und warf es in die Schlucht.
»Das ist jetzt vorbei«, sagte er. Alle drei arbeiteten nun, so schnell sie konnten. Die Dämmerung brach herein und sie schufteten weiter, bis der
Steinhaufen sie überragte. Währenddessen rückten die marschierenden Saren unaufhaltsam näher. Ab und zu lösten sich Steine aus dem Haufen und rutschten den Abhang hinunter. Bowman lief dann immer an den Rand der Schlucht und verfolgte ihren Fall. Und jedes Mal kam er zurück und rief: »Mehr! Wir brauchen noch mehr!«
Die Sonne hatte sich rot gefärbt und ging allmählich unter. Auf der anderen Seite der Schlucht war die vorderste Reihe des Sarenheers nun so nah herangekommen, dass die drei das Mädchen mit dem Stab erkennen konnten. Noch wussten sie nicht, ob sie genug Steine angehäuft hatten, doch Bowman war klar, dass sie nun keine Zeit mehr hatten.
»Wir müssen es jetzt tun!«
Zu dritt stellten sie sich hinter den riesigen Steinhaufen und sammelten all ihre Kraft. Die Marschmusik schallte durch die Abendluft zu ihnen herüber, begleitet vom Rhythmus unablässig marschierender Füße.
Stampf! Stampf! Stampf!
»Jetzt!«, rief Bowman. Er zog das Schwert aus dem Boden und sie stemmten sich alle drei gegen den Steinhaufen. Ein Teil der Steine rumpelte in die Schlucht hinab.
»Schiebt! Fester! Sie müssen alle auf einmal runterfallen!«
Wieder drückten sie mit aller Kraft gegen den Steinhaufen und plötzlich gab er nach. Mit einem dumpfen Grollen geriet er ins Rutschen. Unzählige Steine rollten den Abhang hinunter und wirbelten eine Wolke aus Staub und Geröll auf, während sie in die unendliche Tiefe der Schlucht hinabdonnerten. Die Kinder sahen mit angehaltenem Atem zu und lauschten. Unten in der Schlucht war es inzwischen zu dunkel geworden, um zu erkennen, wo die Schuttlawine landete, doch endlich, nach längerer Zeit, als sie für möglich gehalten hatten, hörten sie es, das Krachen und Dröhnen, mit dem die Steine irgendwo aufprallten. Aber wo? Auf die Stützpfeiler? Auf den Felsengrund der Schlucht? Sie hörten weitere Gesteinsbrocken hinabfallen. Ob das die Lawine war, die sie ausgelöst hatten, oder das brechende Mauerwerk der Brückenbogen konnten sie nicht sagen. Gespannt beobachteten sie den oberen Teil der Brücke – die schmale Brüstung, auf der sie gegen die alten Kinder gekämpft hatten –, doch nichts regte sich. Auf der anderen Seite leuchteten die weißgoldenen Uniformen der Saren in der untergehenden Sonne.
»Es hat nicht funktioniert«, stellte Kestrel fest, den Blick auf die Brücke geheftet. »Wir müssen gehen. Sonst verlieren wir unseren Vorsprung.«
»Nein«, entgegnete Bowman leise mit fester Stimme. »Sie werden uns einholen, lange bevor wir Aramanth erreichen.«
»Was sollen wir sonst tun?«
»Du gehst mit Mumpo weiter. Ich bleibe hier. Sie können nur einzeln über die Brücke kommen. Ich halte sie auf.«
Inzwischen hatten die Saren den Rand der Schlucht erreicht. Das Mädchen an der Spitze marschierte auf der Stelle, während sie ihren goldenen Stab herumwirbelte. Hinter ihr formierte sich die Kapelle. Und noch als Kestrel nach Worten suchte, um ihrem Bruder zu sagen, dass es eine andere Möglichkeit geben musste, fing das Mädchen den Stab auf, zeigte damit nach vorn und trat mit forschen Schritten auf die Brüstung. Während sich die Kapelle am Rand der Schlucht aufstellte und dort weiterspielte, folgten die Soldaten dem Mädchen im Gänsemarsch.
Bowman bückte sich und hob das Schwert auf.
»Nein!«, rief Kestrel.
Er drehte sich um, lächelte sie seltsam an und sprach in einem Ton, den sie noch nie von ihm gehört hatte, ganz ruhig, aber bestimmt. »Geh nach Aramanth. Es geht nicht anders.«
»Ich kann dich nicht verlassen.«
»Ich habe die Macht des Morah selbst gespürt. Verstehst du
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