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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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würden ihm schüchtern einen kleinen Blumenstrauß überreichen, den sie selbst gepflückt hätten. Dann hielte der Kandidat eine unbeholfene, aber tief empfundene Rede, in der er betonte, dass er seinen Erfolg nur diesen wenigen wunderbaren Worten aus der wertvollen Vortagsansprache zu verdanken habe. Danach, dachte Direktor Pillish seufzend, könnte er zufrieden in den Ruhestand gehen, weil er dann wüsste, dass seine Bemühungen nicht umsonst gewesen wären. 
    Dieses Jahr, so sagte er sich, während er seinen prüfenden Blick über die Gesichter der Kandidaten schweifen ließ, dieses Jahr gab es wirklich eine Chance. Noch nie zuvor hatte er eine so gute Arbeitsmoral erlebt. Noch nie zuvor hatte er diese Phase des Lehrganges ohne einen einzigen Nervenzusammenbruch erreicht. Dieses Jahr würde er sicher endlich seinen Helden bekommen. 
    »Kandidaten«, begann er und strahlte die Kandidaten an, um sie zuversichtlich zu stimmen. »Kandidaten. Morgen werden Sie an der Großen Prüfung teilnehmen. Sie sind nervös. Das ist völlig normal. Alle Kandidaten sind nervös. Sie haben keinen Nachteil dadurch, dass Sie nervös sind. Ihre Nervosität wird Ihnen sogar helfen. Ihre Nervosität ist Ihr Freund.« 
    Direktor Pillish strahlte wieder. Diese Einsicht, eine der wichtigsten seiner Vortagsansprache, würde die entscheidende Veränderung bewirken, so glaubte er. In seinem geheimen Traum gestand ihm der erfolgreiche Kandidat nämlich: »Als Sie uns sagten ›Ihre Nervosität ist Ihr Freund‹, sah ich alles mit anderen Augen. Es war, als hätte man mir eine Augenbinde abgenommen, plötzlich wurde mir alles ganz klar.« 
    »Auch ein Läufer ist kurz vor dem Start des Rennens nervös«, fuhr er fort und kam nun langsam in Schwung. »Seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Dann kommt das Startsignal und schon saust er davon! Seine Nervosität gibt ihm Kraft und Schnelligkeit und verhilft ihm zum Sieg!« 
    Er hatte gehofft in den Augen seiner Zuhörer an dieser Stelle ein aufgeregtes Leuchten zu sehen. Stattdessen schienen sie zu lächeln. Das war ungewöhnlich. In allen früheren Jahren hatten die Kandidaten in dieser Phase des Lehrganges missmutige, niedergeschlagene Mienen – und sie schauten ihm nicht in die Augen. Dieses Jahr machten sie einen äußerst fröhlichen Eindruck und er hatte das Gefühl, dass sie ihm gar nicht richtig zuhörten. 
    Er beschloss seine Vortagsansprache kurz zu unterbrechen und ihre Reaktionen zu prüfen. 
    »Kandidat Hath.« Er pickte sich denjenigen heraus, in den er seine größten Hoffnungen gesetzt hatte. »Haben Sie das Gefühl, dass Sie gut vorbereitet sind?« 
    »O ja, ich denke schon«, erwiderte Hanno Hath. »Ich werde mein Bestes geben.« 
    »Gut, gut«, sagte Direktor Pillish. Doch irgendwie hatte er ein komisches Gefühl bei Kandidat Haths Antwort. »Kandidat Mimilith. Wie fühlen Sie sich?« 
    »Ganz gut, Sir, danke«, antwortete Miko Mimilith. 
    Da war es wieder, dachte Direktor Pillish. Irgendetwas stimmt hier nicht. Instinktiv wandte er sich an den schwächsten Teilnehmer des Lehrganges. »Kandidat Scooch. Nur noch ein Tag. Sicher können Sie es kaum noch erwarten, nehme ich an?« 
    »Nein, Sir«, erwiderte Scooch fröhlich. 
    Das war wirklich merkwürdig. Was stimmt hier nicht, fragte sich Direktor Pillish. Und er fand sofort eine Antwort: Sie sind nicht nervös. 
    Direktor Pillish war empört. Nicht nervös! Woher nahmen sie das Recht, nicht nervös zu sein? Welchen Zweck hatte seine Vortagsansprache, wenn sie nicht nervös waren? Es war respektlos. Unverschämt. Ja, geradezu undankbar. Und was das Schlimmste war – ja, so musste es sein –, wenn sie nicht nervös waren, würden sie bei der Großen Prüfung schlecht abschneiden und so ihre Familiennoten verschlechtern. Die Nervosität war ihr Freund. Als ihr Lehrer und Helfer hielt er es für seine Pflicht, diese unangemessen zuversichtliche Gruppe weder nervös zu machen. Er musste es zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl ihrer Familien tun. 
    »Kandidat Scooch«, fuhr er fort, lächelte jetzt aber nicht mehr. »Es freut mich, dass Sie so kampflustig sind. Warum wetzen wir nicht unsere geistigen Schwerter ein wenig für die Schlacht, indem wir mal eben ein paar Fragen und Antworten testen?« Er griff nach einem der Lehrbücher und öffnete es an einer beliebigen Stelle. »Aus welcher chemischen Verbindung besteht Kochsalz?« 
    »Weiß ich nicht«, antwortete Scooch. 
    Direktor Pillish blätterte ein paar

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