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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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das nicht?« 
    Er drehte sich um und rannte auf die Brücke zu. Das Mädchen mit dem Stab hatte die Schlucht bereits halb überquert und marschierte ebenso gelassen voran wie auf dem Großen Weg. Hinter ihr folgte die lange Reihe lächelnder Soldaten. Bowman hob das Schwert im Lauf hoch über den Kopf und stieß ein zorniges Geheul aus. Er merkte nicht, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen. 
    Kestrel rannte ihm nach und schrie aus Leibeskräften. »Geh nicht! Geh nicht ohne mich!« 
    Mumpo blieb als Einziger zurück und behielt weiterhin den Abhang im Auge. Und so war er es, der die ersten Anzeichen dessen bemerkte, was nun folgte. 
    »Die Brücke!«, rief er aus. »Sie bewegt sich!« 
    Bowman hatte gerade die Steinbrüstung erreicht, als der mittlere Brückenbogen erzitterte und das Knirschen von brechendem Mauerwerk laut wurde. Dann löste sich – ganz langsam – die schmale Verbindung zwischen den beiden Felswänden, die Brüstung bebte und stürzte ein. Zuerst gab sie auf der Seite der Kinder nach und brach zur Mitte hin, wo die Saren schneidig marschierten, immer schneller ein. Dann sackte die Brüstung unter ihren Füßen weg. Das Mädchen mit dem Stab und die Saren hinter ihr stürzten aus dem Sonnenuntergang in die Finsternis hinab. Sie schrien weder auf noch machten sie sonst irgendein Geräusch. Und während sie fielen, marschierten ihre nachfolgenden Kameraden weiter und stürzten ebenfalls in die Tiefe. 
    Bowman schaute entsetzt zu. Kestrel kam zu ihm und legte die Arme um ihn. So sahen sie die Saren weitermarschierten, jetzt wieder in Achterreihen, und über den Rand der Schlucht in die Tiefe stürzen. Eine Reihe nach der anderen fiel zu den Klängen der Musik in den Abgrund. 
    »Wir haben sie aufgehalten, Bo. Wir sind in Sicherheit.« 
    Bowman betrachtete die eingestürzte Brücke. »Nein«, entgegnete er. »Wir sind nicht in Sicherheit. Aber wir haben Zeit gewonnen.« 
    »Wie sollen sie ohne die Brücke den Riss-im-Land überqueren?« 
    »Nichts kann die Saren aufhalten«, sagte Bowman. 
    Mumpo kam zu ihnen. Er konnte gar nicht fassen, wie unbekümmert die Saren in den Tod marschierten. »Macht es ihnen nichts aus zu sterben?«, wollte er wissen. 
    »Erinnerst du dich nicht mehr an das Gefühl, Mumpo?«, fragte Bowman. »Solange einer von ihnen lebt, leben sie alle. Der eine lebt durch den anderen. Es ist ihnen egal, wie viele sterben, denn es kommen immer neue nach.« 
    »Wie viele kommen nach?« 
    »Unendlich viele.« 
    Dies war das Grauen, das die Alte Königin gesehen hatte. Man konnte die Saren töten oder besiegen, aber niemals aufhalten. Es kamen immer neue nach. 
    »Deshalb müssen wir Aramanth vor ihnen erreichen«, erklärte Bowman. 
    Er drehte sich um, als wollte er sich sofort auf den Weg machen. Doch sein letzter Vorstoß, bei dem er zu sterben geglaubt hatte, hatte ihn all seine Kraft gekostet. Schon nach wenigen Schritten sank er zu Boden. Kestrel hockte sich erschrocken neben ihn. 
    »Ich kann nicht weitergehen«, sagte er. »Ich muss schlafen.« 
    Also rollten sich Kestrel und Mumpo rechts und links neben ihm zusammen, und dort, wo Bo hingefallen war, schliefen sie alle drei Arm in Arm ein. 

22 Ein gebrochener Wille 
    Einen Tag vor der Großen Prüfung ließ Direktor Pillish alle Kandidaten seines Internatslehrganges zusammenkommen, um vor ihnen seine übliche Vortagsansprache zu halten. Er war sehr stolz auf diese Ansprache, und da er sie schon oft gehalten hatte, konnte er sie auswendig. Seiner Ansicht nach trug sie in einem besonders hohen Maße dazu bei, die Nerven seiner Kandidaten zu beruhigen. Zwar fielen jedes Jahr ausnahmslos alle Mitglieder seiner kleinen Gruppe durch die Große Prüfung, aber wer konnte schon mit Gewissheit sagen, dass sie ohne seine Vortagsansprache nicht noch schmählicher durchgefallen wären? 
    In Wirklichkeit hatte Direktor Pillish einen geheimen Traum. Als unverheirateter Mann, der sich einer ziemlich undankbaren Aufgabe zu widmen hatte, träumte er insgeheim davon, dass ein Mitglied seiner immer wieder scheiternden Gruppe eines Tages sich selbst und ganz Aramanth überraschte und die höchste Punktzahl erreichte. In seinem Traum käme dieser glückliche Kandidat dann mit seiner Frau und seinen Kindern zu ihm, um sich mit Freudentränen in den Augen dafür zu bedanken, dass er, Direktor Pillish, sein Leben verändert habe. Die Frau des Kandidaten würde sich ergeben vor ihm verbeugen und ihm die Hand küssen und seine Kinder

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