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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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Seiten weiter. »Beschreiben Sie den Lebenszyklus eines Wassermolches.« 
    »Kann ich nicht«, sagte Scooch. 
    »Wenn 64 würfelförmige Kisten zu einem würfelförmigen Stapel aufgeschichtet sind, wie viele Kisten hoch ist dann der Stapel?« 
    »Weiß ich nicht«, entgegnete Scooch. 
    Direktor Pillish schlug krachend das Buch zu. »Drei typische Fragen aus der Großen Prüfung und Sie können keine einzige davon beantworten, Kandidat Scooch. Macht Sie das nicht ein klitzekleines bisschen nervös?« 
    »Nein, Sir«, entgegnete Scooch. 
    »Und warum nicht?« 
    »Weil, Sir«, sagte Scooch und merkte nicht, dass Hanno Hath verzweifelt versuchte seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, »ich diese Art von Fragen nicht beantworten werde, Sir.« 
    »Und worüber wollen Sie stattdessen in der Prüfung schreiben, Kandidat Scooch?« 
    »Teepausen«, verkündete Scooch. 
    Ein feiner rosafarbener Nebel schien sich vor Direktor Pillishs Augen zu bilden. Er tastete nach der Tischkante. »Teepausen?«, wiederholte er schwach. 
    »Ja, Sir«, bestätigte Scooch, der gar nicht merkte, welche Wirkung seine Worte hatten. »Ich glaube, ich bin so etwas wie ein Fachmann, was Teepausen betrifft. Nicht jeder hat welche, habe ich herausgefunden. Ich habe mich mit den übrigen Teilnehmern des Kurses besprochen. Wie kann man es als gewöhnlicher Sterblicher vom Frühstück bis zum Mittagessen aushalten ohne sich zwischendurch eine entspannende, aber zugleich auch anregende Pause zu gönnen? Während der ersten Hälfte des Vormittags kann man sich darauf freuen und während der zweiten kann man sich daran erinnern…« 
    »Halten Sie den Mund«, sagte Direktor Pillish. Er blickte die versammelten Kandidaten finster an. Sein geheimer Traum, der so bald hatte verwirklicht werden sollen, lag als Scherbenhaufen zu seinen Füßen. Verbitterung erfüllte ihn. »Möchte vielleicht noch jemand über Teepausen schreiben?« 
    Niemand gab eine Antwort. 
    »Würde mir bitte jemand erklären, was hier vor sich geht?« 
    Hanno Hath hob die Hand. 
    Direktor Pillish hörte sich Hanno Haths Erklärung unter vier Augen in seinem Büro an. Hanno trug eine leidenschaftliche Rechtfertigung seiner neuartigen Methode vor, doch nichts davon ergab einen Sinn. Als Hanno sagte »Ebenso gut könnte man Fische im Fliegen prüfen«, fuhr sich Direktor Pillish mit der Hand über die Stirn und entgegnete: »Die Kandidaten in meinem Lehrgang sind aber keine Fische.« Als Hanno fertig war, blieb der Direktor eine Weile schweigend sitzen. Er fühlte sich betrogen. Zwar hatte er diesen lebhaften Redeschwall nicht verstanden, doch er hatte laut und deutlich einen rebellischen Unterton herausgehört. Hier ging es nicht um Faulheit oder Nervosität, sondern um einen Aufstand. Unter diesen Umständen wusste er, was er zu tun hatte. Er musste den Obersten Prüfer informieren. 
    Maslo Inch hörte sich die ganze unerfreuliche Geschichte an, schüttelte dann langsam den Kopf und sagte: »Ich bin selbst schuld. Der Mann ist wie ein fauler Apfel und jetzt ist die ganze Kiste befallen.« 
    »Aber was soll ich jetzt tun, Oberster Prüfer?« 
    »Nichts. Ich werde mich selbst um ihn kümmern.« 
    »Das Problem ist nur, es tut ihm überhaupt nicht Leid. Er glaubt sich im Recht.« 
    »Ich werde schon dafür sorgen, dass es ihm Leid tut.« Der Oberste Prüfer sprach diese Worte mit solch unerschütterlicherÜberzeugung, dass Direktor Pillishs verletzter Stolz etwas gelindert wurde. Er wollte sehen, wie sich Hanno Haths Lächeln zu einer ängstlichen, bedrückten Miene verzog. Er wollte ihn gedemütigt sehen. Natürlich nur zu seinem eigenen Besten. 
    Mit dieser neuen Entwicklung war die Sache für Maslo Inch entschieden. Er rief den Hauptmann der Konstabler zu sich und gab ihm seine Anordnungen. Am selben Abend rückte ein Trupp von zehn speziell dafür ausgewählten Konstablern in die Arena aus und umstellte den Windsänger, auf dem Ira Hath mit Pinpin im Arm schlief. 
    Damit hatten sie überhaupt nicht gerechnet. Ira Hath war völlig ahnungslos, bis sie an den Armen gepackt und der warme Körper ihres Kindes weggezogen wurde. Sie fing an zu schreien, doch eine Hand hielt ihr den Mund zu und dann wurden ihr die Augen fest verbunden. Pinpin rief kläglich »Mama! Mama!« und sie strampelte und wand sich mit aller Kraft. Doch die Konstabler, die sie festhielten, wussten genau, was zu tun war, und sie konnte sich nicht befreien. 
    Pinpins Schreie wurden immer leiser, Ira

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