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Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Titel: Der Winter tut den Fischen gut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Weidenholzer
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gehen. Sie stand bei der Balkontür, sie blickte in den Hof, sie sagte, warum sollte ich. Das Telefon läutete am Abend, es läutete am nächsten Tag, aber Maria hob nicht ab. Sie nahm sich vor zurückzurufen, zu sagen: Es tut mir leid. Sie rief nicht zurück, sie löschte Marthas Telefonnummer, sie löschte Angelikas Telefonnummer. Sie wartete.

35 Dann und wann
    Es liegt Schnee. Es liegt Schnee, der den Boden bedeckt. Ich sehe deine Schritte. Schritte, die bleiben, wenn sich der Fuß wieder vom Boden abhebt. Tanz mit mir Tango, sage ich und laufe deinen Spuren nach. Ich hole dich ein, ich sehe deinen breiten Rücken im Laternenlicht. Dein Rücken ist von einer Jacke bedeckt, dein Rücken ist eine braune Fläche aus Leder, Haut auf Haut. Du sagst: Was schaust du immer in den Himmel, Maria, dort siehst du nichts. Ich sage: Ich sehe die Wolken, ich sehe die Sonne, dann und wann ein Flugzeug, dann und wann ein Vogel, das genügt. Du drehst dich nicht um, ich bleibe zwei Schritte hinter dir. Dort, wo wir stehen, wird der Schnee stärker platt gedrückt als dort, wo wir nur darüber gehen. Der Schnee deckt alles zu, auch deine Spuren, sie werden verschwinden. Tanz mit mir Tango, sage ich, tanz mit mir. Warum flüsterst du, fragst du. Ich habe meine Stimme verloren, sage ich. Bist du krank, Maria, fragst du und greifst an meine Stirn, Maria, hast du dich erkältet im Schnee. Nein, sage ich, ich habe nur meine Stimme verloren, ich weiß nicht, wo sie ist. Die Tauben sitzen auf dem Rauchfang, sie haben ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt. Tanzen wir jetzt, sage ich. Ich wünsche mir ein renoviertes böhmisches Schnallenorchester, sagst du. Was ist das, frage ich. Du drehst dich um, deine Lederjacke ist am Revers mit Fell besetzt, ich streiche darüber. Biber, sagst du, das ist Biberfell.
    Maria hält die Augen geschlossen. Das erste Bild des Tages wird verschwommen sein, bis sie über die Augen wischt und die Welt klarer wird. Eine Minute noch, denkt sie, es ist noch Zeit. Neunundfünfzig, achtundfünfzig, siebenundfünfzig. Bei dreiundvierzig schläft Maria ein, sie wird nachher nicht wissen, bei welcher Zahl. Das Bett hat in der Mitte einen Spalt, dort, wo die Matratzen einander berühren, aber nicht ineinander übergehen. Links liegt Maria, neben ihr das Fenster in der Wand, mit Blick auf den Innenhof, vom Bett aus ist das Gras nicht zu sehen, nur die Fichte. Im Bett ist es warm, Maria zieht die Decke über ihre Schultern, sie sucht den Wecker, als er läutet, sie drückt die Schlummerfunktion, sieben Minuten noch, denkt sie. Als einundzwanzig Minuten vergangen sind, entscheidet Maria, dass es ohnehin schon zu spät ist und dass sie noch liegen bleiben kann, so lange, bis eine volle Minuteneinheit erreicht ist. Wenn ich um zehn Uhr aufstehe, denkt sie, habe ich noch zwei Stunden bis zum Mittagessen. Ich werde eine halbe Stunde frühstücken, und wenn ich mich beim Frühstück beeile, fünfzehn Minuten frühstücke, fünfzehn Minuten im Bad, das Bad kann ich streichen, weil ich zu Hause bin, es ist genügend Zeit. Maria dreht sich auf den Rücken, weil es gesünder ist, auf dem Rücken zu liegen als auf dem Bauch. Sie zählt Sekunden, sie hört ein Hämmern aus einer der Nachbarwohnungen, sie dreht sich zur Seite, die Beine angewinkelt, die rechte Hand unter dem Kopf. Um elf Uhr eins läutet der Wecker seit drei Stunden, Maria hat ihn in ihrer Armbeuge liegen. Wie andere Menschen ein Stofftier, denkt sie, ein Stofftier, ein ganzer Mensch hat in einer Armbeuge keinen Platz; ein Kopf, ein Arm, eine Hand, ein Bein, ein Fuß, aber kein ganzer Mensch. Um elf Uhr eins riecht es aus der Nachbarwohnung nach Essen, es ist Donnerstag, und an Donnerstagen kocht Isolde Rindfleisch im Schnellkochtopf. Die Suppe friert sie ein, das Fleisch isst sie gleich, gemeinsam mit Frau Stefanie, die Isolde an Donnerstagen im Haushalt hilft. Frau Stefanie heißt Justyna, aber Frau Stefanie ist leichter zu merken, sagt Justyna, wenn sie sich vorstellt. Frau Stefanie bindet eine Schürze um, wenn sie Isoldes Wohnung putzt. Maria wird sie durch den Türspion beobachten, wenn sie um elf Uhr einundzwanzig aufsteht und nachsieht, ob sie die Tür öffnen und die Zeitung hereinholen kann. Die Zeitung, deren Probeabonnentin Maria derzeit ist. Fünf Wochen Abo plus aufblasbares Nackenhörnchen, das Nackenhörnchen liegt auf Marias Vorzimmerkommode. Wenn Maria durch den Türspion schaut, hält sie den Atem an, sie drückt ihren Bauch gegen die Tür und

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