Der Winterpalast
und der Kanzler zustimmen.«
Ich erinnere mich, als wäre es heute gewesen, wie sie, angefeuert durch Madame Tschoglokowas wachsendes Unbehagen, eine Spur Hohn in der Stimme, immer hitziger redete, Phrasen wie der Erde Nahrung entreißen und der goldene Faden des Glaubens im kostbaren Gewebe des Reichs verwendete und fragte: »Wür
den wir nicht träge und selbstsüchtig werden, wenn uns keine Opfer abverlangt würden?«
Sie war verletzt, dachte ich. Sie hatte Schmerzen, aber sie war nicht besiegt.
Der Korbstuhl knarrte. Madame Tschoglokowa wand sich gequält, ein riesiger fetter Wurm an einem Haken. Sie hatte den Auftrag, alles, was sie hörte, der Kaiserin zu berichten, und bemühte sich verzweifelt, sich jedes Wort Katharinas einzuprägen.
Der Großfürst näherte sich, die preußisch-blaue Uniform makellos sauber, die Messingknöpfe und die schwarzen Stiefel auf Hochglanz poliert, und erlöste Madame Tschoglokowa von ihrer Pein. Er war gerade aus Sankt Petersburg zurückgekommen und suchte den Rat seiner Frau. Sollte man die Biersteuer in Holstein erhöhen oder besser nicht? Und dann war da noch dieses Gesuch des Henkers …
»Guten Tag, Peter.« Katharina deutete einladend auf den leeren Stuhl neben ihr. »Soll ich Ihnen eine Tasse Schokolade einschenken?«
Peters Dreispitz warf einen Schatten auf sein Gesicht, als er Platz nahm. Sein Mohr, auf den er eine Weile hatte verzichten müssen, stand mit einem Korb voller Dokumente hinter ihm. Offenbar hatte die Kaiserin zum Zeichen ihrer Zufriedenheit dem Großfürsten erlaubt, seinen Adjutanten wieder in seine Dienste zu nehmen.
Peter nahm meine Anwesenheit mit einem Nicken und einem vollkommen unbefangenen Lächeln zur Kenntnis, als wüsste er gar nichts davon, dass ich mich vor Kurzem erst geweigert hatte, mich gemeinsam mit ihm und seiner Entourage auf Katharinas Kosten lustig zu machen. Bemerkt er nicht, dass der Hof Partei nimmt? , dachte ich. Dass die Leute sich entweder auf Katharinas oder Peters Seite schlagen? Dass der Streifen Niemandsland dazwischen immer schmaler wird?
Der Holsteiner Henker, erklärte Peter, führte Klage darüber, dass immer mehr Bürger Tierkadaver einfach auf den Straßen lie
gen ließen, und er müsse sie dann, in seiner Eigenschaft als Abdecker, auf seine Kosten wegräumen und entsorgen.
»Wie viele Leute unterstützen die Petition?«, fragte Katharina.
Ich sah, wie freundlich sie mit ihm redete, wie aufmerksam sie ihm zuhörte. Das Fräulein , dachte ich, kann eben doch nicht alle seine Bedürfnisse befriedigen.
Madame Tschoglokowa zupfte mich am Ärmel und gab mir zu verstehen, dass es Zeit war, mich zu verabschieden. Auch das gehörte zu ihren Pflichten: Sie hatte dafür zu sorgen, dass die Eheleute möglichst oft ungestört waren.
»Soll ich es Ihnen vorlesen?«, hörte ich den Großfürsten fragen, als ich zur Kutsche ging. »Der Mann hat recht.«
»Man muss den Preußen endlich die Nasen so richtig tief in den eigenen Dreck tunken, die wollen es nicht anders«, sagte Igor eines Nachmittags im Herbst.
Er war gerade vom Dienst nach Hause gekommen und machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Seine Uniform muss mal wieder gründlich ausgebürstet werden, dachte ich. Die roten Aufschläge waren voller Gipsstaub.
Seine Kameraden sahen das genauso, fuhr Igor fort, in den Kasernen und Banjas wurde von nichts anderem mehr geredet. Friedrich von Preußen – »Fritz«, wie ihn die Offiziere nannten – konnte die Franzosen an der Nase herumführen, aber nicht die Russen. Jetzt, nachdem er Schlesien geschluckt hatte, redete er von Frieden, doch seine Gier nach fremdem Land war noch lange nicht gestillt, er brauchte nur eine Atempause. Und in welche Richtung würden seine Truppen wohl marschieren, wenn er wieder losschlug? Nach Osten natürlich, immer weiter nach Osten.
»Es wird Krieg geben.« Er schlug mit der flachen Hand auf sein Knie. »Und zwar schon bald.«
Das Mädchen hatte den silbernen Samowar auf ein Seitentischchen gestellt und holte jetzt noch die Marmelade. Nebenan hörte ich die Stimmen von Darja und Mascha. Offenbar wollte meine
Tochter ihren Teller nicht leeressen, und Mascha erzählte ihr eine Schauergeschichte von einem Kind, das nicht ordentlich aß und mit der Zeit so leicht wurde, dass es in der Luft schwebte und nicht mehr herunterkonnte. Ich deckte den Tisch, zwei Teetassen waren angeschlagen. Ich nahm mir vor, das Porzellan selbst einzupacken, wenn wir wegen der Umbauarbeiten im
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