Der Winterpalast
Kartentisch und machte eine Menge Schulden. Wollte die Kaiserin ihrem Neffen eine Chance geben, einen Thronfolger zu zeugen? Wie lange würde sie mit ihm Geduld haben? Ich wusste, dass Katharina sehnlich auf Nachrichten von mir wartete, aber ich hatte keine Neuigkeiten für sie.
In meiner Not verfiel ich auf den Gedanken, der Kaiserin gegenüber Andeutungen zu machen, dass ich ihr vielleicht etwas Interessantes berichten könnte, wenn ich Gelegenheit hätte, Katharina aus der Nähe zu beobachten. Mehrere Abende lang bearbeitete ich sie so, aber Elisabeth ging gar nicht darauf ein. Doch dann plötzlich, als ich die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, befahl sie mir, nach Oranienbaum zu fahren.
Ich brauchte fast einen ganzen Tag für die Reise, immer auf der Küstenstraße, vorbei an Peterhof, stundenlang nichts als kreischende Möwen und der faulige Geruch der Sümpfe.
In den Gärten am Kanal, der zum Meer führte, ebneten Gärtner mit Strohhüten Maulwurfshügel ein. Ein Vogel lief übers Gras, im Schnabel einen Grashalm. Als er mich sah, blieb er stehen und ließ den Halm fallen. Ich hob ihn auf und schüttelte ihn. Samen lösten sich aus der Rispe und wurden vom Wind fortgetragen.
Dann sah ich Katharina. Sie saß in einem Korbsessel unter einer sibirischen Zirbelkiefer, neben ihr Madame Tschoglokowa. Tränen stiegen mir in die Augen; ich war froh, dass niemand sie sehen konnte.
Katharina hatte ein Buch in der Hand und schnitt mit einem Papiermesser die Seiten auf. Die Falten ihres weit geschnittenen
taubenblauen Kleids fielen lose über ihren Bauch, das schwarze Haar war zu einem Knoten gebunden. Auf dem Tischchen neben ihr standen ein Teller mit einem Restchen Blaubeerkuchen und Tassen mit einem angetrockneten Schokoladenrand.
Madame Tschoglokowa, einst Kerkermeisterin, dann Kupplerin, hatte eine Stickarbeit auf ihrem Schoß. Ihre Kinder waren nirgends zu sehen. Im Winterpalast machte sich Gräfin Schuwalowa ein Vergnügen daraus, Monsieur Tschoglokows Klagen über die passage intime seiner Ehefrau wiederzugeben. »So weit wie die Landstraße nach Moskau«, hatte er einmal zu einer der jungen Choristinnen vom Theater gesagt.
Madame Tschoglokowa bemerkte mich und räusperte sich.
Katharina blickte von ihrem Buch auf. Sie wirkte sehr blass und zerbrechlich, und doch fand ich sie schöner als je zuvor. Nur die Trauer in ihren Augen gefiel mir nicht, Trauer um das verlorene Kind und um Sergej, der ganz offensichtlich immer noch in ihren Gedanken spukte.
Eine Elster ließ sich auf einem Ast über ihr nieder und krächzte misstönend. Ihr Gefieder glänzte grün-blau in der Sonne. Eine Diebin , dachte ich, die auf eine Gelegenheit lauert.
»Warwara Nikolajewna«, murmelte Katharina. »Jetzt sehe ich Sie also doch wieder, nach so vielen Jahren. Ich habe gehört, Sie haben ein Kind.«
Madame Tschoglokowa legte ihr Stickzeug hin und faltete ihre Hände.
»Ja, Hoheit.« Ich schlug die Augen nieder. »Ich habe eine Tochter. Sie ist fast drei Jahre alt und hält sich bereits für eine perfekte Hofdame.«
Ich setzte dazu an, ihr zu sagen, wie leid es mir tat, dass sie ihr Kind verloren hatte, aber sie unterbrach mich: »Ich möchte nicht von Vergangenem sprechen.«
Also plauderten wir davon, wie es zugegangen war, dass ich wieder an den Hof zurückkehren durfte. Ich erwähnte, dass die Kaiserin uns eine größere Wohnung versprochen hatte, sobald
der neue Palast fertig war. Als sie wieder nach Darja fragte, zögerte ich, weil ich dachte, es würde sie schmerzen, über mein Kind zu sprechen, aber sie bestand darauf. Sie ließ sich berichten, wie entzückt Darja gewesen war, als die Kaiserin ihr eine Puppe mit echten Haaren geschenkt hatte, sie hörte zu, als ich ihr Darenkas Grübchen beschrieb und die erwartungsvolle Lebhaftigkeit, mit der sie jeden neuen Tag begrüßte.
»Sie ist so freundlich zu allen Menschen, so zutraulich«, sagte ich, »vielleicht zu arglos.«
»Na ja, sie hat immer noch ihre Mutter, die auf sie aufpasst«, meinte Katharina.
»Ja«, sagte ich.
»Dann ist doch alles gut.«
So plauderten wir eine Weile ganz unverfänglich, aber es war eine doppelbödige Unterhaltung, unter deren höfisch glatter Oberfläche sich allerlei indirekte Botschaften verbargen: Manche Opfer, die einem das Leben abverlangt, sind nicht vergebens. Vor allem und zuerst muss man seine Pflicht tun.
Ich redete davon, wie froh ich war, wieder am Hof zu sein, der Kaiserin und meinen alten Freunden, die mich nicht
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