Der Winterpalast
hatte darüber zu wachen, dass die Herrschaften nicht gestört wurden und niemand sich auf Hörweite dem Zimmer näherte, in dem sie saßen. Durch die geschlossenen Türen vernahm ich
dann die gedämpften Stimmen von Bestuschew, Woronzow und der Schuwalows, die zornig erregt, drohend, bittend, resigniert ihre Positionen verteidigten.
Der Kanzler war auf dem besten Weg, die Oberhand zu gewinnen. Er handelte mit Sir Charles ein Abkommen aus, das nur noch vom englischen König und von der Kaiserin unterschrieben und gesiegelt werden musste. Aber während die Papiere auf dem Weg nach London waren, ereignete sich ein neuer politischer Erdrutsch, der Bestuschews diplomatisches Kalkül zunichtemachte: Der König von England machte eine plötzliche Kehrtwendung, wandte sich von Russland ab und verbündete sich mit Preußen.
Der ganze russische Hof schäumte vor Empörung, und Elisabeth erklärte rasend vor Zorn über diese Demütigung den britischen Gesandten zur persona non grata .
Die Schuwalows triumphierten.
Die Kaiserin war gereizt und rastlos. Wegen des Verrats der Briten?, fragte ich mich. Oder weil sie an die Schlachten dachte, die bald geschlagen werden mussten? In einem ihrer Träume hatte jemand, dessen Gesicht sie nicht hatte sehen können, ihr einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem geschrieben stand: Du hast genommen, was dir nicht gehörte. Deine Tage sind gezählt. Russland wird für deine Sünden büßen müssen.
» Er war es. Es war Iwanuschka«, murmelte sie. Sie hatte gehört, was die Wachen über den entthronten Kaiser redeten: Er habe dunkle und helle Momente und könne in die Zukunft sehen.
Gegen Mitternacht, wenn sie ihren Favoriten weggeschickt hatte, ließ sie Essen aus der Küche kommen: Seljodka , fetten Hering aus dem Weißen Meer, russisches Brot mit Honig aus dem Altai, in Weinbrand eingelegte Pflaumen, mit Schokolade umhüllte Nüsse.
In diesen schlaflosen Nächten ließ sie sich Geschichten von Xenia erzählen, der untröstlichen jungen Witwe, die all ihren Besitz
verschenkte und in der Uniform ihres verstorbenen Mannes durch die Straßen von Sankt Petersburg zog. Während ich die geschwollenen Füße der Kaiserin massierte, berichtete ich von den Wundern der Heiligen: Ein Bäcker in der Meschtschanskistraße gelangte zu Wohlstand, nachdem er ihr einen Laib Brot geschenkt hatte. Ein Droschkenkutscher, der sie in seiner Kutsche mitnahm, verdiente an diesem Tag mehr Geld als sonst in einem ganzen Monat. Eine Mutter sprach Xenia an und bat sie, ihren kleinen Sohn zu segnen, der an Rachitis litt, und das Kind wurde bald wieder gesund.
Ein dankbares Seufzen belohnte mich für meine Mühen, sie murmelte ein paar Worte oder streckte mir ihre geschwollene, runzlige kaiserliche Hand hin, die ich küssen durfte, bevor sie mich gnädig entließ.
Seine diplomatische Schlappe hatte dem Kanzler viel Hohn und Spott vonseiten seiner Gegner eingebracht. Der alte Fuchs hatte sein berühmtes Fingerspitzengefühl verloren. Sein krankhaftes Misstrauen Frankreich gegenüber hatte ihm den politischen Verstand vernebelt. Wo waren seine Spione, wenn Russland sie brauchte? Oder war er vielleicht selbst einer, bezahlt von den Briten?
Man erzählte, dass Bestuschews Diener nachts alle Kneipen nach ihrem betrunkenen Herrn absuchten. Einmal brachte ein Droschkenkutscher ihn gegen Morgen halbnackt und triefnass nach Hause. Iwan Schuwalows Onkel nannte ihn offen den »abgehalferten« Kanzler, und das in Gegenwart der Kaiserin, die allerdings so tat, als hätte sie es nicht gehört.
Der alte Fuchs, so redete man, sei erledigt.
Wenn ich ihm auf dem Korridor begegnete, blieb er stehen, eingehüllt in eine Wolke aus Kampfer und Moschus, und fragte mich, ob die Großfürstin immer noch in Naryschkin verliebt sei.
Ich musste mich zusammennehmen, damit er mir meine Erheiterung nicht ansah. Selbst der Herr über alle Spione durchschaute nicht jede Täuschung.
»O ja«, versicherte ich ihm. Ich erzählte ihm, wie sich die beiden Liebenden neulich in der Oper über das Fräulein lustig gemacht hatten, die mit wackelndem Gesäß vorbeiging. »Dieser Hintern könnte einen Brauereigaul neidisch machen«, sagte ich mit Lews Stimme.
Der Kanzler lächelte gezwungen. Sein Gesicht war aufgedunsen und so stark gerötet, dass auch die dicke Schicht Puder nichts mehr half.
»Er trägt eine blaue Weste, wenn er sie in der Oper treffen will«, erklärte ich. »Grün bedeutet: Russisches Theater. Die Großfürstin redet
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