Der Winterpalast
verhieß?
»Nur den unschuldigen Kindern wird die Zukunft offenbart«, sagte Elisabeth seufzend.
Sie brauchte nur an den Kleinen zu denken, und prompt wurde ihre Stimme weich, sie klang unsicher, staunend verwundert. Der Zarewitsch lächelte im Schlaf. Als sie ihn aus der Wiege nahm, wachte er auf.
Er lag in den Armen seiner Großtante, kleine Spuckebläschen vor dem Mund, und zauste an ihren Haaren. Man sagte, er sei musikalisch wie sein Vater, denn er bewegte seine Hüften zur Musik der Geige, wenn er umherkrabbelte, und es gefiel ihm, wenn Schranktüren knallend zufielen. Er war auch tapfer, denn er schrie nicht mehr, wenn ihn die Kindermädchen auf das große Schaukelpferd setzten, das mitten im Zimmer stand.
Katharina hatte nicht sehen dürfen, wie ihr Sohn zum ersten Mal lächelte, den Kopf hob oder sich mit eigener Kraft aufsetzte. Sie hatte ihn in seinem ersten Lebensjahr nur neunmal besuchen dürfen und war nie mit ihm allein gewesen. Ihre Stimme hatte ihn nie in den Schlaf gesungen. Sein Gesicht hellte sich nicht auf, wenn sie sich über ihn beugte – er kannte sie gar nicht, sie war eine fremde Person für ihn.
»Sie können nichts dagegen tun«, sagte ich zu ihr. »Sie können ihm nur in Ihrem Herzen eine Mutter sein.«
Es war ein unfaires Tauschgeschäft, das man ihr aufgezwungen hatte: Sie fand sich damit ab, dass man ihr ihren Sohn weggenommen hatte, und im Gegenzug gönnte die Kaiserin ihr einen Spaß und tolerierte ihre heimlichen Eskapaden.
Im Winter 1755 hörte Katharina auf, um ihr Kind zu weinen.
Eines Morgens in der ersten Dezemberwoche, als ich Katharinas Schlafzimmer betrat, roch ich den Duft von Veilchenwasser und wusste sofort, dass etwas vorgefallen war, womit ich nicht gerechnet hatte.
»War Stanislaw hier?«, fragte ich. Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
»Er liebt mich, Warenka.« Ihre Augen glänzten. Sie war wie entrückt. »Und ich liebe ihn.«
»Katharina! Wann ist er gekommen?«
»Lew hat ihn hergebracht. Er hat ihn einfach zur Tür reingeschoben.« Sie kicherte, die Hand vor dem Mund.
Sie lag auf dem Bett hingestreckt in ihrem cremeweißen Nachthemd mit rosa Bändern, das schwarze Haar offen und wild zerzaust.
»Hat ihn irgendjemand gesehen?«
»Nein, Warenka«, sagte sie. »Er ist da rausgestiegen.« Sie zeigte zum Fenster.
Ich betete, dass er wenigstens so vorsichtig gewesen war, sein Gesicht unter einer Kapuze zu verbergen.
Ich sagte Katharina nichts von den losen Brettern auf dem Dachboden und wie leicht es war, von dort oben zu beobachten, was in den Räumen im Erdgeschoss vorging, sondern sah mich im Schlafzimmer nach verräterischen Spuren um. Das Laken war befleckt, dazu kam der Geruch des Veilchenwassers.
Offenbar sah sie mir meine Angst an.
»Es war spät in der Nacht, Warenka. Niemand hat ihn gesehen.«
Ich besprühte das Laken und die Bettdecke mit Katharinas Parfüm. Ich ließ Katharina einen Brief an Lew Naryschkin schreiben. Geliebter Freund … denke voller Entzücken an deinen nächtlichen Besuch …
Das Billett sollte auf dem Schreibtisch liegen, wenn die Zofen kamen, um das Bett zu machen.
Sie sah mich an und wiegte versonnen den Kopf.
Mich fröstelte. »Wenn wir Glück haben«, sagte ich, »fallen die Spitzel darauf herein, und wir kommen noch einmal mit knapper Not davon. Vielleicht.«
Angesichts der Kriegsdrohung, die Europa in Atem hielt, war der Hof so tief gespalten wie nie zuvor. Preußen warf begehrliche Blicke in Richtung seiner Nachbarländer. Alle waren sich darin einig, dass seine Machtgelüste dem russischen Reich gefährlich werden konnten, denn sie bedrohten das Gleichgewicht der Kräfte. Aber das war auch schon das Ende der Einigkeit. Auf die Frage, was konkret zu tun war, um jenes von allen gewünschte Gleichgewicht zu erhalten, bekam man, je nachdem, wen man fragte, sehr verschiedene Antworten.
Der politische Kurs war heftig umstritten.
In der Neuen Welt verdrängten die Briten die Franzosen unaufhaltsam aus ihren Kolonien. Sollte Russland sein Gewicht in die Waagschale Frankreichs werfen, wie die Partei um die Schuwalows es wollte, oder sollte man dem Rat des Kanzlers folgen und ein Bündnis mit England schließen? Welche der beiden Großmächte würde, wenn es so weit war, eher dabei helfen, dem aufstrebenden preußischen Adler die Flügel zu stutzen?
Die kaiserliche Suite verwandelte sich mehr und mehr in ein Kriegskabinett, in dem jede Partei Elisabeth auf ihre Seite zu ziehen suchte.
Ich
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