Der Winterpalast
fuhr sie eines Nachts aus dem Schlaf hoch und schrie voller Entsetzen: »Papa ist ganz, ganz weit weg!«
Alles Zureden half nichts, sie ließ sich nicht trösten. Erst Mascha gelang es schließlich, sie mit einem Lied, das sie immer Igor vorgesungen hatte, als er klein war, in den Schlaf zu singen:
In der Nacht, wenn Wellen wogen
In der Nacht, wenn Sterne strahlen …
Allen nächtlichen Ausflügen Katharinas in diesem Winter gingen verstohlene Zeichen voran, die in dem kleinen Kreis um den Fürsten Naryschkin ausgetauscht wurden. Ein Tupfen auf die rechte Schulter in der Oper, ein Schönheitspflästerchen am Kinn signalisierte den Eingeweihten, dass wieder eine Einladung anstand. Katharina perfektionierte die Kunst, Erschöpfung vorzutäuschen, schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein und sagte den Dienstbo
ten, sie wolle nicht gestört werden, um sich dann verkleidet fortzuschleichen.
Ich half ihr dabei, so gut ich konnte, aber es ergab sich nur noch einmal, im Dezember, dass ich Katharina zu den Naryschkins begleitete.
Stanislaw war schon da, als wir kamen. Der Geruch von Veilchenwasser und Schnupftabak stieg mir in die Nase. Hinter Graf Poniatowski stand Sir Charles.
»Sehen Sie sich die beiden an, Warwara Nikolajewna«, sagte der britische Gesandte und zog mich beiseite.
Katharina und Stanislaw waren durch den Raum in eine Ecke gegangen, die kaum vom Kerzenlicht beleuchtet war. An diesem Abend hatte sie sich als Dienstmädchen verkleidet und das Haar zu einem Knoten gebunden. Sie wirkte so unscheinbar neben Stanislaw, der einen sehr eleganten Frack von der Farbe reifer Auberginen trug. Das dunkle Purpurrot, fand ich, stand ihm besser als Weiß und Silber. Sie steckten die Köpfe zusammen.
Wenigstens treffen sie sich nicht heimlich im Palast, dachte ich.
»Unsere Kinder«, so nannte Sir Charles die beiden.
Man konnte die Augen nicht von ihnen abwenden.
Draußen war die Newa zugefroren, und an den Straßen häufte sich der Schnee; drinnen spürte man die Wärme der Kachelöfen, roch den Duft von Kerzenwachs und hörte das Summen von Stimmen. Natürlich kam man schon bald auf die Ereignisse in Lissabon zu sprechen.
»Das Schicksal!«, hörte ich Stanislaw sagen. »Gottes unergründlicher Ratschluss, gegen den man nichts tun kann.«
»Aber Sie werden doch wohl nicht bestreiten, dass Gott uns etwas lehren will«, wandte jemand ein.
Stanislaw schüttelte den Kopf. »Das wären Lektionen, die uns überfordern und die wir nicht verstehen können. Auch wenn noch so viele Vorzeichen und Warnungen, die aus den Konstellationen der Sterne und Planeten ersichtlich sind, sie angekündigt haben.«
»Trinken wir also auf die Unwissenheit.« Fürst Naryschkin erhob sein Glas. »Meine Lieblingstugend.« Jemand kicherte.
Katharina schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. Zu laut , dachte ich. Zu schroff.
Es wurde still im Raum.
»Eine Katastrophe ist nicht einfach nur der Schlag eines blinden Schicksals«, fuhr sie fort. »Und wir können sehr wohl daraus lernen.«
Ihre Augen glänzten, ihre Stimme wurde immer lebhafter, während sie sprach. Was sie meinte, war dies: Die Menschen, die sich an dem Tag des Erdbebens in Lissabon aufhielten, waren dem Tod geweiht, aber nicht einfach deswegen, weil das Schicksal es so wollte. Der Mensch konnte vorausdenken, er konnte Vorsorge treffen, sich gegen das Unglück wappnen. Man hätte vernünftig planen, die Leute in kleineren, naturnahen Siedlungen mit leichter gebauten Häusern unterbringen können, dann wären viele mit dem Leben davongekommen.
»Der Mensch ist dem Unglück nicht hilflos ausgeliefert«, sagte sie. »Er kann ihm Grenzen setzen.«
»Genau.« Auch Sir Charles glaubte an die Macht des menschlichen Willens. »Wir sind vernunftbegabte Wesen. Wir können Züge unseres Charakters verändern.«
»Sicher, wir müssen unser Bestes versuchen.« Stanislaw hatte ganz rote Wangen vor Eifer. »Aber wir sind nicht allmächtig. Man muss nur an die verirrte Kugel denken, die einen Soldaten tötet. Was können alle Vernunft und aller Wille des Menschen dagegen tun?«
Andere Stimmen mischten sich ein, manche fragend, andere von keinem Zweifel angenagt. »Immerhin kann der Mann sich ja ducken«, hörte ich jemanden sagen. Einige lachten. Einer mahnte zu etwas mehr Ernst.
Ich hörte nicht mehr zu.
War es eine Konsequenz von Willensentscheidungen, dass es mich aus der Buchbinderwerkstatt auf der Wasiljewskiinsel in die
sen vornehmen Salon voller Leute
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