Der Winterpalast
Beute leicht findet.
Ich lernte, mir die Kunst der Ablenkung und die Macht der Gewohnheit zunutze zu machen. Ich lernte, ausdruckslos dreinzuschauen, ich lernte, so mausgrau zu werden, dass man mich gar nicht mehr wahrnahm.
Spione, so lernte ich, müssen die Kunst beherrschen, sich unsichtbar zu machen.
Ein schmaler Geheimgang mit steilen Treppen führte hinauf zu den Räumen des Kanzlers. Normalerweise fand ich ein rotes Taschentuch unter meinem Kopfkissen, wenn er mit mir sprechen wollte, aber in dieser kühlen Augustnacht hatte er mich durch einen seiner Leibdiener zu sich bestellt. Ich zitterte vor Erwartung. Die
Kaiserin war gerade erst aus ihrer Sommerresidenz Peterhof in den Winterpalast zurückgekehrt. Konnte es sein, dass der Kanzler mich jetzt endlich zu ihr brachte?
Ganz leise, um die anderen Mädchen nicht zu wecken, schlüpfte ich in mein bestes Kleid, eines aus weißem Musselin. Es hatte meiner Mutter gehört, und mein Vater hatte es enger machen lassen, aber es stand mir so gut, als wäre es eigens für mich geschneidert worden. Die Schuhe, die ich dazu trug, passten weniger gut. Sie drückten vorn an den Zehen, denn meine Mutter hatte kleinere Füße gehabt als ich.
Der Kanzler des russischen Reichs erwartete mich in seinen Gemächern. Er saß in einem Sessel am Fenster und beobachtete mich mit schmalen Augen, als ich auf ihn zu ging. Er hatte seine Perücke abgelegt; ich fand, dass sein Kopf so kleiner und weniger imposant aussah. Ich bemerkte eine kahle Stelle. An einem Finger steckte ein schwerer goldener Ring. Ich fand, dass der schwarze Samt mit den silbernen Bordüren ihm besser stand als Rot und dass der Spitzenkragen ganz besonders edel wirkte.
War er der mächtige Mann, von dem meine Mutter geträumt hatte?
»Komm, kleine Näherin.«
Seine Stimme hatte etwas Heiteres, das mir das Gefühl gab, ich sei etwas Besonderes, zu großen Dingen bestimmt. Alle Furchtsamkeit fiel von mir ab. Er bringt mich zur Kaiserin, dachte ich, aber ich war klug genug, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen. Hatte er nicht gesagt, Ungeduld sei ein Fehler?
Weil es kühl war in dieser Augustnacht, brannte ein Feuer im Kamin. Offenbar war das Birkenholz nass, denn es zischte und qualmte.
»Ich habe den Dienern freigegeben«, sagte der Kanzler und wies auf einen Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. »Aber du wirst nicht hungrig von hier fortgehen.«
Ich machte einen Schritt darauf zu. Er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Tisch, und die Teller waren leer.
»Es ist ein mechanisches Tischlein-deck-dich.« Offenbar schaute ich ziemlich verdutzt drein, denn er lachte. »Die Kaiserin hat auch so einen. Ich erkläre dir, was man machen muss.« Er wies auf einen Stuhl. Ich setzte mich.
»Heb den Teller hoch«, sagte er. Ich tat es, und eine Klappe in der Tischplatte wurde sichtbar.
»Mach auf.«
In einem Fach unter der Klappe lagen ein Bleistift und ein Blatt Papier.
»Ich weiß, dass die Mädchen von Madame Kluge nichts als Wassersuppe zu essen bekommen, darum darfst du dir jetzt einmal etwas wünschen: Schreib auf, was du gerne möchtest«, sagte er. »Tu dir keinen Zwang an.«
Störsuppe , schrieb ich. Gebratener Fasan.
»Weiter, alles, was du willst.« Sein Atem roch nach Wodka.
Austern.
Petits Fours.
Er betätigte einen Mechanismus, und der Tisch fuhr durch einen Schacht unter dem Fußboden abwärts, dann verschloss eine passgenaue Platte aus Parkett die Öffnung. Als der Boden sich wieder auftat, standen auf dem Tisch Schüsseln und Teller mit silbernen Warmhalteglocken. Der Kanzler hob sie eine nach der anderen hoch.
»Iss«, sagte er. »Die Kaiserin mag keine mageren Mädchen. Sie geben ihr das Gefühl, sie selbst sei plump und unförmig.«
Sein Teller blieb leer.
Er sah mir zu, wie ich mit der Gabel das mit Zitronensaft beträufelte Fleisch der Austern aufspießte und gierig verzehrte. Die Fischsuppe war heiß, und ich verbrannte mir die Zunge. Fasern von geräuchertem Stör blieben zwischen meinen Zähnen hängen. Ich versuchte vergebens, sie mit der Zunge herauszupulen.
Neben einer halbvollen Flasche Kirschlikör standen zwei Gläser. Bestuschew schenkte sie bis zum Rand voll.
»Ein Geschenk der Kaiserin«, murmelte er. »Zum Zeichen allerhöchster Wertschätzung und Dankbarkeit.«
Klang eine Spur Bitterkeit in diesen Worten? Ich ignorierte sie.
»Das ist ihr Lieblingsgetränk, Warwara. Probier mal!«
Ich nahm das Glas ganz behutsam, um nichts zu verschütten, aber es lief
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