Der Winterpalast
auf dem Korridor begegnete, nickte sie nur noch nachlässig und schritt stolz an ihr vorbei. Der Großfürst fragte Fürstin Daschkowa, wieso sie sich mit seiner Frau abgebe und sie so häufig besuche. »Madame Neunmalklug will Sie wohl dazu bekehren, zu ihren Heiligen zu beten?«, bemerkte er.
Der auf sein Landgut Goretewo verbannte Bestuschew schickte mir eine Sendung Honig mit der Bitte, sein Geschenk Katharina zu bringen. Er unterzeichnete sein Begleitschreiben mit: ein Mann,
dessen Urteil nur noch gefragt ist, wenn Bauern sich um ein paar Kohlköpfe oder ein Schaf streiten .
Die Kaiserin klammerte sich immer noch mit ungebrochener Gier ans Leben.
»Widersprechen Sie ihr nicht«, riet Doktor Halliday. »Bemühen Sie sich, sie zu beruhigen.«
Ich erinnere mich an allerlei Zerstreuungen, die man veranstaltete, um die Kaiserin aufzuheitern. Ein Jongleur, der bunte Bänder durch die Luft sausen ließ, ein tschechisches Mädchen, das so gelenkig war, dass es sich nach hinten biegen konnte, bis sein Kopf seine Waden berührte, ein Affe, der einen rosa Frack trug und sehr geschickt mit einem Regenschirm und einer Taschenuhr hantierte.
In der zweiten Dezemberwoche konnte die Kaiserin den Sud aus Fingerhutblättern, der ihre stechenden Schmerzen in der Brust lindern sollte, nicht mehr bei sich behalten. Nachrichten von weiteren Siegen im Krieg gegen Preußen trafen ein. Noch einen Monat zuvor hätte sie frohlockt, aber jetzt glomm in ihren abwesend starrenden Augen nur ganz kurz ein schwacher Funke von Interesse auf.
Sie schob die Teller weg, wenn die Diener ihr etwas zu essen brachten, trank aber in großen Mengen kalten Kwass.
Die Wundertäterin Xenia zeigte sich wieder auf den Straßen der Stadt und sagte allen Leuten, sie sollten Blini und Kisel machen für einen großen Leichenschmaus.
Eines Nachts in diesem Dezember, als draußen der Wind über das Eis der Newa pfiff und pulvrigen Schnee aufwirbelte, sah ich, wie die Kaiserin des russischen Reichs ihre rot geschwollenen Hände vor ihre Augen hob. Sie bewegte sie hin und her, aber ihre Augen folgten der Bewegung nicht.
Offenbar wurde die Kaiserin blind.
Die Hände sanken zurück auf das Bett. Puschok, der weiße Kater, der an ihren Hals geschmiegt schlief, begann leise zu schnar
chen. Ich stupste ihn sanft, und er verstummte. Der Raum war gut beheizt, und die Vorhänge waren zugezogen, trotzdem hatte ich plötzlich ein Gefühl von Kälte. Ich beugte mich vor, um das Kissen zurechtzuziehen.
»Hasst du mich, Warwara?«, flüsterte die Kaiserin heiser.
»Ob ich Sie hasse, Majestät?«
»Du sollst nicht nachplappern, was ich gesagt habe, du sollst antworten.«
»Ich hasse Eure Majestät nicht.«
»Weil ich im Sterben liege?«
»Eure Majestät wird nicht sterben.«
»Lüg mich nicht an, Warwara. Ich weiß, was du denkst. Dass ich dich mit einem Soldaten verheiratet habe. Dass du etwas Besseres verdient hast.«
Mein Herz raste. Ich atmete tief durch. »Das ist jetzt alles Vergangenheit«, sagte ich.
»Die Vergangenheit lässt sich oft schwer abschütteln, und …«
Ein Hustenfall überkam sie. Ich holte ein Glas Wasser und stützte sie, damit sie trinken konnte. Sie zitterte, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Ich tupfte ihr den Mund mit einem Taschentuch ab.
Hass kann so brüchig sein wie das zarte Knöchelchen eines Vogels.
Als der Anfall vorbei war, konnte ich nicht mehr an den bösen Erinnerungen an ihre Wutausbrüche, ihre Eitelkeit, an die Kränkungen und Verletzungen, die sie mir zugefügt hatte, festhalten, sie zerrannen mir zwischen den Fingern, mein Groll zerbröckelte. Eine alte Frau, die den Tod vor sich sieht, dachte ich, als sie zurück auf ihr Kissen sank. Am Ende sind wir alle mit der Angst allein.
Sie wusste es, sie sah es mir an, wie Mitleid mich überkam. Stille trat ein. Sie deutete zur Wand, wo das älteste Porträt von ihr hing, das der kleinen nackten Prinzessin am Hof Peters des Großen.
»Sie wollten mich töten, aber ich blieb am Leben. Auch er
muss überleben. Versprich mir, meinen Großneffen zu beschützen. Schwöre mir, dafür zu sorgen, dass ihm kein Leid geschieht, wenn ich tot bin.«
Ich wand mich vor Unbehagen. »Wer bin ich, dass ich so etwas versprechen könnte?«
»Du bist ihre Spionin.«
Ich wollte widersprechen, aber die Kaiserin brachte mich mit einem gereizten Wedeln der Hand zum Schweigen.
Ich frage mich noch heute, wie viel die Kaiserin wusste in diesen letzten Lebenstagen. Hatten ihre Spitzel ihr
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