Der Winterpalast
öffentliche Sympathiebekundungen verhelfen niemandem an die Macht. Sie muss Leuten entrissen werden, die engherzig sind und unersättlich gierig. Um an die Macht zu kommen, braucht man Helfer, die im Halbdunkel von Dienstbotenkorridoren agieren, man muss sich auf die Kunst der Tarnung verstehen.
Man braucht Soldaten und Spione, keine Galionsfiguren.
In den Gassen von Sankt Petersburg schlugen Leidenschaften hoch, wild wie Bären, die mit ihren Tatzen angreifende Hunde von sich schleudern und ihnen alle Knochen brechen. Die Garden provozierten Streit mit den Holsteinern. Immer wieder stellte dieser oder jener Offizier laut die Frage, wo denn der Kronprinz ge
wesen sei, als heldenhafte russische Soldaten auf den Schlachtfeldern starben.
Die unübersichtlichen Verhältnisse im provisorischen Palast machten es Katharina leicht, sich allzu genauer Beobachtung zu entziehen. Ihre Suite lag weit entfernt von der des Großfürsten, und im Palast herrschte überall Chaos, da jede Übersiedlung eines Höflings in den neuen Winterpalast sogleich eine ganze Kette von Umzügen innerhalb des provisorischen Palasts zur Folge hatte. Weite Bereiche der Dienstbotenkorridore waren so heruntergekommen, dass man sie mit Brettern vernagelt hatte, und man brauchte bloß ein paar Dielen loszumachen, um Geheimgänge zu schaffen. Auf solchen Wegen zwischen morschen, mit Schimmel bedeckten Wänden, an denen Ratten entlanghuschten, konnten Katharinas Freunde nach Belieben und in aller Heimlichkeit ein und aus gehen.
Wenn ich zu ihr kam, stieg mir oft der Geruch von feuchtem Leder und Soldatenschweiß in die Nase.
»Bitte, Warenka«, murmelte Katharina, »kümmere dich einfach darum, dass niemand etwas bemerkt.« In ihrem Gesicht sah ich ein zweideutiges Lächeln, halb Erwartung, halb Ungeduld, weil ihr alles immer zu lange dauerte.
Ich tat, was sie von mir verlangte. Ich zog das fleckige Laken ab, bevor es die Zofen sehen konnten. Ich lüftete, damit der Geruch von Männerschweiß verschwand. Ich wischte die Spuren von den schmutzigen Stiefeln ihres Liebhabers weg. Ich räumte verräterische Dinge weg, die er liegengelassen oder verloren hatte, einen Gürtel, einen Messingknopf, seine Sporen.
»Sagt Ihnen Grigori wenigstens, dass er bereit sei, für Sie zu sterben?«, fragte ich Katharina im Scherz. »Oder vielleicht sogar, das Spielen aufzugeben?«
Da sah ich es wieder, dieses freudige Erröten.
»Für mich sterben? Du wirst doch nicht am Ende den tollkühnen Leichtsinn gutheißen wollen?«, sagte sie lächelnd.
Stanislaw war in Warschau. Sir Charles ruhte in seinem eng
lischen Grab. Vor zwanzig Jahren hatten die Garden Elisabeth zur Kaiserin erhoben.
Ihre Tollkühnheit war den Garden gut bekommen. Galten sie nicht als die »Zarenmacher«?
Und zwei der Brüder Orlow hielten die Fäden der Garderegimenter in den Händen.
Im kaiserlichen Schlafzimmer im neuen Winterpalast wurden die Vorhänge vor den Fenstern niemals zugezogen. Die Kaiserin wollte die Barken auf der Newa sehen, die goldene Spitze der Peter-und-Paul-Kathedrale, den mächtigen Turm der Kunstkamera auf der Wasiljewskiinsel.
»Was machen sie jetzt schon wieder?«, fragte sie jedes Mal gereizt, wenn sie wieder einmal Lärm von Handwerkern hörte. Zofen wurden ausgeschickt und kamen zurück mit dem Bescheid, dass im Großen Ballsaal Leuchter aufgehängt oder Marmorgeländer angebracht oder Statuen auf Rollen zu ihrem Bestimmungsort geschleppt wurden.
»Das möchte ich sehen«, sagte Elisabeth.
Vier Lakaien trugen die Sänfte, große, starke Männer mit gepuderten Perücken und unbewegten Gesichtern. Sie schulterten die Tragstangen und schritten über die spiegelnden Marmorböden und komplizierten Mosaikmuster der breiten Korridore, um die Kaiserin zu irgendeinem der Säle und Gemächer zu bringen, die nur so glitzerten vor Pracht und Herrlichkeit.
Im kaiserlichen Schlafgemach drängten sich die Besucher, die Geschenke und Neuigkeiten brachten, sie besetzten Schemel, Ottomanen und Sessel. Iwan Schuwalow saß neben der Kaiserin auf dem Bett, Graf Rasumowski hatte zu ihren Füßen Platz genommen. Die beiden gaben Acht, dass sie nicht an die Arme oder Beine Elisabeths stießen, die ganz vernarbt waren, so oft hatte man sie zur Ader gelassen. Auch Katharina kam und brachte Neuigkeiten aus dem Kinderzimmer mit: Paul war schon wieder gewachsen. Sie hatte ihn auf dem Boden hingestreckt angetroffen;
er hatte mit seinem Holzschwert gefuchtelt und gefragt: »Siehst du
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