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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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unruhig. Als ich mitten in der Nacht einmal aufwachte, sah ich den Mond, umschleiert von leuchtendem Dunst.
    Ich weiß nicht mehr, was ich träumte. Am Morgen, als ein Dienstmädchen Waschwasser brachte, stürmte ich gleich hin, rücksichtslos schubste ich alle beiseite, die mir im Weg standen. Krampfhaft bemühte ich mich die ganze Zeit, nicht an die Hände des Kanzlers zu denken, die meine Brüste betasteten, und an das besudelte Kleid meiner Mutter.
    Nichts ist passiert. Du bist immer noch Jungfrau.
    Ich tauchte meine Hände ein und wusch sie mit Seife. Dann wusch ich sie noch einmal. Durch das Fenster sah ich die Newa, die Kämme der grauen Wellen funkelten in der Morgensonne.
     
    »Spionage, Warwara«, sagte mir mein Lehrmeister später, »ist die Kunst, Leute zu benutzen, die keine Loyalität kennen, deren Gier maßlos und unberechenbar ist und deren Motive immer suspekt sind. Unter denen, die für uns arbeiten, ist keiner, der nicht die Seite wechseln würde, wenn ihm nur genügend geboten wird. Die besten Spione sind nicht diejenigen, die für Geld oder aus Furcht arbeiten, sondern die, die im Dienst ihres Herrn Befriedigung ihrer tiefsten Wünsche und Sehnsüchte finden.«
    Ich hatte so viel zu lernen. Viele Nächte brachten wir damit zu, Nächte voller Verheißungen und Schmeicheleien. Ich war schlau, gerissen, hübsch. Ich war flink und geschickt. Ich wusste, wann ich den Mund halten und wann ich reden musste. Ich hörte gut zu und merkte mir alles.
    Ich war keine Näherin mehr, keine namenlose Dienstmagd, kein von der Gosse aufgelesenes Waisenkind, um das sich keine Menschenseele kümmerte, mochte es leben oder sterben.
    Eine glänzende Zukunft lag vor mir, der Moment meines Triumphs war nicht mehr fern.
    Wenn ich von den Gemächern des Kanzlers in mein Quartier zurückkehrte, wärmte ich mich an solchen Gedanken.
    Der Sommer war längst vorüber, der Hof hatte sich wieder im Winterpalast eingerichtet, aber ich hatte noch viel zu lernen. Nichts war so, wie es schien. Diejenigen, die mich auf den Fluren keines Blickes würdigten, hatten schmutzigere Geheimnisse als ich.
    Falls ich je daran gezweifelt hätte, dass es noch andere Möglichkeiten gab, die Gunst der Kaiserin zu gewinnen, wurde ich eines Besseren belehrt: »Die Kaiserin liebt Hochzeiten«, sagte der Kanzler. »Wenn sie dich nicht gerade absolut unersetzlich findet, wird sie dich mit dem niedrigsten ihrer Lakaien verheiraten und mit dem Bräutigam tanzen. Hast du schon jemanden im Auge?«
    »Nein.«
    Eine Freundlichkeit, eine Warnung, ein Versprechen. Und untergründig immer das Gefühl, dass er mich ernst und wichtig nahm,
ein Gefühl, das mich blendete und antrieb auf einem Weg, den ich alleine nie gegangen wäre.
    »Hör zu.«
    »Halt die Augen auf.«
    »Merke es dir.«
    »Lüge alle Leute an, aber niemals mich, und du wirst es nie bereuen.«
    »Komm wieder.«
    Ich tat immer, was er von mir verlangte. Sie ist wie Opium, die Macht, all das zu wissen, von dem andere glauben, es sei ihr Geheimnis.
    Ich ahnte damals nichts davon, dass die Stimme des Kanzlers in mir mit der Zeit immer lauter und nachdrücklicher werden, dass sie meine eigenen Gedanken ersticken und den Anspruch erheben würde, sie sei die einzige Stimme, die es wert war, gehört zu werden.
    Rede nicht zu viel. Achte auf die, die zu viele Fragen stellen. Lass dir von schwitzenden Händen und nervösen Blicken den Weg weisen. Vergiss nie, dass es keinen Ort gibt, der wirklich sicher, keinen Raum, der vollkommen abgeschottet ist. Traue keinen Nettigkeiten: Jedes Geschenk, jedes Lächeln ist ein Bestechungsversuch.
    Ich ahnte damals nicht, wie leicht die Geheimhaltung zur Sucht wird, von der man nicht mehr loskommt.
     
    In der Nacht des 30. September nahm mich der Kanzler mit zur Kaiserin.
    Die schweren Vorhänge ihres Himmelbetts waren zugezogen. Auf der Marmorplatte eines Tischs sah ich eine halbleere Flasche Kirschlikör stehen, daneben glänzten Zitronenscheiben in einer roten Pfütze. Die Katze, die sich neben dem Feuer streckte, hatte kein Samtjäckchen an. Der Stock des Kanzlers lehnte am Kamin, im Silber des Handgriffs spiegelten sich die flackernden Flammen.
    Zuerst dachte ich, im Schlafzimmer wäre niemand, aber dann hörte ich aus dem Halbdunkel neben dem Bett jemanden eine Tanzmelodie pfeifen.
    »Da ist sie, Majestät«, sagte der Kanzler. »Wie versprochen. Sie wird euch nicht enttäuschen.«
    »Bringen Sie sie näher her«, befahl die Kaiserin. Sie trat aus dem Schatten

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