Der Winterpalast
Staunen sie in ihrer Jugend reagiert hatten, als sie hörten, dass dort, wo in flachem Ödland nur hier und da vereinzelte Hütten finnischer Fischer verstreut lagen, eine mächtige blühende Stadt entstehen sollte.
Diese Greise erzählen auch gern von dem Großen Zaren, der mit Riesenschritten durch die Welt ging, sodass seine Begleiter rennen musste, wenn er ganz gemütlich spazierte, von seinen geschickten Händen, die Holz schnitzen, Ikonen malen, Schuhe anfertigen, Zähne ziehen konnten.
Sie zitieren seine Devise: »Stillstand ist Tod.«
Vom Wodka befeuert, reden diese Alten, die die Stadt aus den nebligen Sümpfen emporwachsen gesehen haben, von Soldaten und leibeigenen Bauern, deren Schädel und Knochen zutage kommen, wenn man in die Erde gräbt, auf der Sankt Petersburg erbaut wurde.
In ihren Stimmen klingt keine Bitterkeit.
Wären all diese Bauern und Soldaten nicht ohnehin gestorben? War es nicht besser für eine große Sache zu sterben? Für etwas, das ein gewöhnliches Menschenleben überdauert?
Beim Auspacken nach unserem Umzug in den Winterpalast war ich auf viele Schätze gestoßen: Ein von Darja gemaltes Bild von einem Haus, neben dem ein Mann in einer grünen Uniform stand, so groß, dass sein Kopf den Kamin weit überragte. Ein Zettel, den ich am Morgen von Darjas elftem Geburtstag auf dem Früh
stückstisch gefunden hatte und auf dem geschrieben stand: Maman, in welchem Alter hattest du ein eigenes Zimmer? In welchem Alter hast du dein erstes langes Kleid bekommen? Darf ich jetzt in deiner Badewanne baden? Mittlerweile ahmte sie Gesten der Hofdamen nach, ihren lässig eleganten Gang.
»Die Kaiserin ist ganz hingerissen von Ihrer Tochter, Warwara Nikolajewna«, sagte Fürstin Galizina.
Es war nicht unbemerkt geblieben, dass Katharina Darja Kleider und Pelze geschenkt, sie zu einem Kostümfest für Kinder eingeladen hatte, ihr zusammen mit dem Großfürsten Paul Ballettunterricht geben ließ. In früheren Zeiten hatte mich die Fürstin kaum eines Blickes gewürdigt, wenn ich ihr auf dem Gang begegnete, jetzt blieb sie stehen, um aufs freundlichste mit mir zu plaudern.
Wo warst du , dachte ich, als die Großfürstin eine Freundin brauchte?
Nach der Krönungsfeier in der Kathedrale von Moskau war der Großfürst völlig erschöpft zusammengebrochen, nachdem er stundenlang neben seiner Mutter hatte stehen und jubelnden Menschenmassen hatte zuwinken müssen. Er hatte hohes Fieber bekommen und von Schlangen phantasiert, die über ihn krochen. Sein rechtes Bein war ganz rot und geschwollen.
Einmal saß ich an seinem Bett, machte ihm kalte Umschläge und wusch ihm den Schweiß ab. Er öffnete die Augen und fasste ängstlich meine Hand.
»Werde ich sterben?«, fragte er leise.
»Nein«, antwortete ich. »Ihre Maman wird das niemals zulassen.«
Er öffnete den Mund, als ob er noch etwas fragen wollte, aber er sagte nichts mehr.
Als er sich nach seiner Genesung zum ersten Mal wieder dem Volk zeigte, warf sich eine Bäuerin mit einem schwarzen Schultertuch auf den Boden und kreischte immer wieder: »Lang lebe Kaiser Paul Petrowitsch! Lang lebe unser Batuschka !«
Erst als zwei Wachen sich einen Weg durch die Menge bahnten, zerstreuten sich die Leute, die sich um die Frau drängten.
Am ersten Jahrestag von Katharinas Thronbesteigung mussten keine Wachen einschreiten. Feuerwerk erhellte die Nacht, Feuerräder und farbenprächtige Blüten erschienen am dunklen Himmel, und einmal war sogar einen atemberaubenden Moment lang eine glitzernde Kaiserkrone zu sehen. Die Massen klatschten begeistert Beifall, tranken gierig an den Wodkabrunnen und sahen fasziniert den Seiltänzern zu, die in schwindelnder Höhe über der Großen Perspektivstraße ihre Künste vorführten.
Im Großen Saal des Winterpalasts standen an den goldenen Wänden entlang Tische, die mit kaiserlichen Adlern dekoriert waren. Kinder liefen von einem zum nächsten auf der Suche nach den besten Leckerbissen. Ich sah den Großfürsten, der sich von hinten an Graf Panin anschlich und mit den Armen flatternde Bewegungen machte wie ein sonderbares Rieseninsekt. Der Graf tat so, als bemerkte er es nicht. Und ich sah, wie sich Darja in ihrem wunderschönen grünen Satinkleid in einem von Monsieur Rastrellis überdimensionalen Spiegeln bewunderte.
»Ach, wenn das der Herr noch erlebt hätte«, sagte Mascha seufzend. Auf dem Tatarenmarkt reservierten jetzt die Metzger ihre besten Stücke für Gräfin Malikina, und die Fischhändler
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