Der Winterpalast
starrte ich ins Kaminfeuer und stellte mir vor, wie es wäre, wenn mein Kind mir
genommen würde. Sie war jetzt fast vierzehn. Katharina war nur wenig älter gewesen, als sie nach Russland kam, um zu heiraten.
Ich hörte Papier knistern, der Geruch von heißem Siegellack stieg mir in die Nase.
»Es betrifft dieses Ballett, Warenka.« Katharina legte die Feder weg und wandte sich mir zu. »Ich möchte, dass unsere Kinder in dem Stück zusammen tanzen.«
Ich war so erleichtert, dass mir Tränen in die Augen schossen.
»Ich erzähle dir gerne mehr darüber«, sagte Katharina lächelnd, »aber nur, wenn du aufhörst zu weinen.«
Herr Hilverding, der österreichische Tanzmeister, den Katharina aus Wien nach Sankt Petersburg geholt hatte, wollte ein von ihm selbst geschaffenes Ballett am Hof aufführen. Es hieß Acis und Galatea und erzählte die Geschichte eines Schäfers, der eine schöne Nymphe liebt. Acis wird von dem eifersüchtigen Zyklopen Polyphem erschlagen, und Galatea verwandelt sein strömendes Blut in einen Fluss. Ein Trauertanz des Gottes Hymenäus, verkörpert vom Großfürsten Paul, sollte das Stück beschließen. Darja sollte die Rolle der Nymphe übernehmen.
»Wenn ihre in Tränen aufgelöste Mutter es erlaubt, versteht sich«, scherzte Katharina, während ich nach meinem Taschentuch kramte, schon jetzt entzückt bei dem Gedanken, dass meine Tochter im Theater des Winterpalasts vor der ganzen Hofgesellschaft tanzen sollte.
»Dann ist es also abgemacht.« Katharina wehrte meinen Dank mit einer nachlässigen Handbewegung ab und wandte ihre Aufmerksamkeit den Briefen zu, die ich ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte. Im Hinausgehen sah ich, wie sie einen nahm und das Siegel erbrach. Ich hatte die Tür noch nicht erreicht, da sprang sie plötzlich auf wie ein kleines Mädchen. Sir Tom fuhr von seinem Kissen hoch und bellte aufgeregt.
»König August von Polen ist gestorben«, rief sie. »Nikita Iwanowitsch soll sofort herkommen.«
Aber dann rief sie mich wieder zurück. Sie müsse erst ihre Gedanken sammeln, sagte sie. Ihre Stimme wurde ernst: »Jetzt kann ich endlich eine alte Schuld bei einem lieben Freund begleichen. Ich möchte keinen Fehler machen.«
Zwei Wochen später reiste Graf Keyserling nach Warschau ab mit dem Auftrag, die Wahl Stanislaws zum polnischen König zu sichern. Mitte November folgte ihm Fürst Repnin, um ihn zu unterstützen. Er brachte Weihnachtsgeschenke für Stanislaw mit: eine Sendung schwarzer Trüffeln, eine Bronzestatuette der Minerva und eine mit Juwelen besetzte Schnupftabaksdose, deren Deckel Katharinas in Elfenbein geschnitztes Profil zierte.
Ganz schwindlig vor Freude dachte ich daran, was Sir Charles prophezeit hatte: dass Stanislaw, König von Polen, und Katharina, Kaiserin von Russland, ihre großen Nationen in Frieden und gegenseitigem Vertrauen regieren würden.
Die Zeit war gekommen, da dieser alte Traum voller Verheißungen endlich wahr würde.
In der letzten Nacht des November saß ich allein in meinem Wohnzimmer. Ich war unruhig und konnte nicht schlafen. Ich versuchte zu lesen, aber die Augen taten mir weh vom Kerzenlicht, und meine Gedanken beschäftigten sich unablässig mit den Sorgen und Pflichten meines Diensts bei Hof: Ein Gemälde, das ein Händler aus Paris geschickt hatte, war irgendwie verloren gegangen; ich musste neue Seidenfäden für Katharina besorgen – sie knüpfte zum Zeitvertreib gerne hübsche Bändchen, die sie verschenkte.
Die Uhr hatte gerade zwölf geschlagen, als ich im Vorzimmer etwas poltern hörte. Einen Moment lang dachte ich, es sei Bestuschew, der es irgendwie geschafft hatte, sich an meinen Dienern vorbeizuschmuggeln. In den letzten Wochen schickte er mir andauernd Briefe, in denen er mich bestürmte, ihm zu einer Privataudienz bei Katharina zu verhelfen.
Aber es war nicht Bestuschew.
Die derangierte, nach Wodka und Knoblauch riechende Ge
stalt, in den Händen eine Schüssel mit Himbeersorbet, war Grigori Orlow.
»Für Darenka«, erklärte er und hielt mir die Schüssel hin, »Igors Sonnenscheinchen.«
»Wo haben Sie das her, Grigori Grigorjewitsch, mitten in der Nacht?«
»Der Koch mag mich«, murmelte er mit schwerer Zunge. »Keine Ahnung, warum.«
Ich musste lachen. »Aber meine Tochter schläft schon«, sagte ich.
Das Sofa seufzte, als er sich darauf niederließ, die Arme steif ausgestreckt.
Mascha, die gehört hatte, dass jemand gekommen war, huschte herein. »Bring das Darenka«, lallte Grigori.
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