Der Winterpalast
Mascha nahm die Schüssel und trug sie fort.
Er rappelte sich mühsam auf. »Wieso macht sie ihn zum König von Polen, Warwara Nikolajewna? Damit sie ihn heiraten kann?«
Da also drückt ihn der Schuh, dachte ich. Eine Sturzflut von Verwünschungen und Drohungen brach aus Grigori hervor: Dieses Milchgesicht … Feigling … intrigiert, damit sie ihn wieder zurückkommen lässt. Er schüttelte hilflos die Faust. »Schreibt er ihr noch?«
»Das müssen Sie die Kaiserin fragen.«
»Sie redet nicht von ihm.« Grigori Orlow glotzte mich mit unstet umherirrenden Augen an. Hinter ihm erlosch eine Kerze. Ich fühlte mich bleischwer vor Erschöpfung und fragte mich, wie lange ich mir diese eifersüchtigen Tiraden noch anhören musste.
»Dieser mickrige kleine Pole gibt nicht auf, er schreibt ihr immer noch, das weiß ich von Alexej … er sagt, wir müssen auf der Hut sein … alle haben sich gegen uns verschworen …«
Hoch aufragend stand Grigori vor mir, ein Berg aus Fleisch und Muskeln, leise schwankend. Und dann fiel er um.
Besorgt beugte ich mich über ihn. Er schnarchte. Mascha holte eine Decke und ein Kissen. Er grunzte, als sie ihm die Stiefel aus
zog. »Nicht, Katinka, jetzt nicht.« Wir deckten ihn zu und ließen ihn auf dem Teppich liegen, damit er seinen Rausch ausschlief.
Als ich zu Bett ging, hörte ich Darja nach mir rufen. Sie war aufgewacht und wollte wissen, was passiert war. Sie saß im Bett, die Arme um ihre Knie geschlungen, die schwarzen Locken zerzaust.
»Es ist nichts«, sagte ich. »Schlaf weiter, kison'ka .«
»Du erzählst mir nie, was los ist.« Sie seufzte resigniert. »War das Onkel Grigori?«
»Ja.«
»Hat er mir wirklich Eis mitgebracht?«
»Ja, aber rede mit niemandem darüber. Er hat ein bisschen zu viel getrunken.«
»Ich weiß.« Sie gähnte. »Ich bin schließlich kein Baby mehr.«
Ich umarmte sie. Ihr Haar müffelte ein bisschen, obwohl Mascha es ihr erst am Tag zuvor gewaschen hatte. Ich nahm mir vor, ihr zu sagen, dass sie beim nächsten Mal mehr Eigelb verwenden sollte.
Bitte weisen Sie meine aufrichtig zerknirschte Entschuldigung und die bescheidenen Gaben für Darenka nicht zurück , schrieb Grigori Orlow in einem Briefchen, das am nächsten Tag bei uns abgegeben wurde. Und, bitte, sprechen Sie mit niemandem über die Sache. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Katinka erführe, wie idiotisch ich mich benommen habe.
Zusammen mit dem Schreiben kam ein ganzer Korb voller Präsente, darunter ein sehr hübscher Apfel aus Sandelholz, in den wie bei einer Babuschka weitere, kleinere Äpfel geschachtelt waren, und ein Lackkästchen, auf dessen Deckel eine Märchenprinzessin mit einer Krone aus Pfauenfedern gemalt war.
Meine Lippen sind versiegelt , schrieb ich ihm, aber Ihre Geschenke sind zu kostbar für ein kleines Mädchen, das gern Sorbet isst.
Er antwortete sofort. Er bestehe darauf, dass ich die Geschenke
annähme. Im Gedenken an Igor. Zum Zeichen alter Freundschaft.
Ich dachte danach nicht mehr viel an die Ereignisse jener Nacht. Grigoris Eifersucht war grundlos, aber ich konnte ihn verstehen. Im Bett einer Kaiserin geht es auch um Macht. Eine Witwe kann wieder heiraten. Ein Thronerbe kann sterben.
Ich hob Grigoris Briefchen nicht auf. Wieso auch?
»Ich tanze die Rolle der Nymphe«, erzählte Darja jedem, der es hören wollte. In ihrer Begeisterung fürs Ballett war sie immer gern bereit, Gesten oder Schrittfolgen, die sie gerade gelernt hatte, vorzuführen.
Mir war nicht wohl dabei – ich wusste nur allzu gut, wie leicht man bei Hof Neid auf sich ziehen konnte. »Wenn du sämtlichen Leuten schon jetzt zeigst, was ihr alles einstudiert, ist es bei der Aufführung ja gar keine Überraschung mehr«, sagte ich.
Die ersten Proben mit Herrn Hilverding fanden im Blauen Salon der kaiserlichen Suite statt, sodass die Kaiserin jederzeit zuschauen konnte, wenn sie Lust hatte. Außer ihr war kein Publikum zugelassen.
Ich erinnere mich noch gut an die Momente in jenem Winter, wenn ich Darja nach den Proben abholen kam: Pauls Entzücken über sein Kostüm und die Perücke, die er gar nicht mehr ablegen wollte. Wie Darja leichtfüßig eine Runde durch den Salon drehte, das Gesicht eingerahmt von dem Oval ihrer Hände. Das Gewirr aufgeregter Stimmen, die konzentriert angespannten Gesichter. Berichte von kleinen Pannen und gerade noch im letzten Moment abgewendeten Katastrophen. Ein verstauchter Knöchel, ein kaputtes Requisit.
Ende März kündigte Herr
Weitere Kostenlose Bücher