Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
Er machte Umschläge. Ich schlief ein, und als ich wieder aufwachte, waren mehrere Tage vergangen, aber das wurde mir erst klar, als das Mädchen, das mir eine Tasse Fleischbrühe
brachte, fragte, ob ich wisse, welcher Wochentag heute sei. Ich versuchte zu antworten, brachte aber keinen Ton heraus.
     
    Ich hatte nichts von allem mitbekommen. Nicht die öffentliche Verlautbarung, dass Peter an einer Darmkolik in Verbindung mit heftigem Bauchgrimmen, an dem er häufig litt , verstorben sei. Nicht den Anblick der einbalsamierten Leiche des früheren Kaisers, die im Alexander-Newski-Kloster aufgebahrt lag, ein Tuch um den Hals. Nicht das Geflüster der Leute: Ein ehemaliger Kaiser lag immer noch in der Festung Schlüsselburg gefangen. Welche Kaiserin konnte sich gleich zwei lebende abgesetzte Vorgänger leisten? Es bestand ja immer die Gefahr, dass irgendein Wirrkopf versuchte, einen davon zu befreien.
    Katharina schrieb: Werde bald wieder gesund, Warenka. Ich brauche dich an meiner Seite.
    Grigori selbst brachte mir den Brief.
    »Katinka macht sich Sorgen um Sie, Warwara Nikolajewna. Jeden Tag fragt sie mich, wie es Ihnen geht.«
    Er nahm in dem Sessel neben meinem Bett Platz, seine Stirn in ernste Falten gelegt.
    Ich hörte ihm zu: … ein schreckliches Unglück … Alexej hätte nicht so viel trinken … sich nicht provozieren lassen sollen … Er weiß es … Katinka weiß es … Der Staatsstreich war ein riskantes Unternehmen … Es passieren eben immer Dinge, mit denen niemand rechnet …
    Von der Straße drangen Geräusche herein. Eine Frauenstimme sang eine Ballade, die ich nicht kannte. Eine Trompete blies.
    Ich hatte einen sauren Geschmack im Mund. Die Schnitte vom Aderlass an meinem Bein taten mir weh.
    »Er ist hier, Warwara Nikolajewna. Er wird Sankt Petersburg morgen verlassen.« Grigori Orlow räusperte sich. »Mein Bruder bittet Sie, ihn anzuhören.«
    Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen anfing. Ich nickte.
    Offenbar hatte Alexej direkt vor der Tür gewartet, denn er kam sofort herein, als Grigori ihn rief. Er trat zögernd näher, zog verlegen seinen stahlblauen Uniformrock zurecht.
    »Ich bin schuldig, Warwara Nikolajewna.«
    Die Narbe auf seiner Wange zuckte, während er sprach. Mehrmals stockte seine Stimme. Er wiederholte sich. Katharina hatte ihm befohlen, ihren Mann zu beschützen, und er hatte versagt. Er wollte sich nicht herausreden: Er hatte das Kommando geführt, er trug die Verantwortung für das, was passiert war. Er konnte es nicht ungeschehen machen.
    Die Bodendielen knarzten jedes Mal unter seinem Gewicht, wenn er von einem Fuß auf den anderen trat, Grigori neben ihm, sichtlich angespannt, begleitete die Worte seines Bruders mit nachdrücklichem Nicken.
    »Ich bin bereit zu sterben. Ich bin Soldat. Aber unsere geliebte Kaiserin will es nicht. ›Was würde Ihr Tod nützen? Könnte ich dann leichter regieren?‹, hat sie gefragt. Darum habe ich sie gebeten, mich fortzuschicken, damit sie nicht ständig durch meinen Anblick an das Furchtbare erinnert wird.«
    Es war eine Soldatenstimme, stark und doch flehend. Einfache Worte, aber nicht zu widerlegen. Worte, die mir nicht aus dem Kopf gehen sollten.
    »Etwas Furchtbares ist geschehen, aber wir können das Beste daraus machen.«
    »Für die Kaiserin.«
    »Für Russland.«
    »Für uns alle.«
     
    Im August, als ich mich so weit erholt hatte, dass ich wieder ausgehen konnte, ließ der Oberhofmeister mir mitteilen, dass unsere neue Wohnung im Winterpalast fertig sei. Vier große Wohnräume und ein Vorzimmer, nicht weit von der kaiserlichen Suite gelegen. Möbliert und ausgestaltet nach den Wünschen Ihrer Majestät. Der provisorische Palast sollte, sobald die letzten Bewohner
ausgezogen waren, abgerissen werden. Auf dem Gelände sollte dann ein kleiner Park entstehen.
    Ihre Majestät habe den Wunsch geäußert, so schrieb der Oberhofmeister, mich offiziell in Ihre Entourage aufzunehmen. Die Kaiserin stehe, wie mir ja bekannt sei, um fünf Uhr morgens auf und arbeite bis acht Uhr allein in ihrem Arbeitszimmer. Sobald sie angekleidet und frisiert sei, empfange sie Besucher und Bittsteller. Fünf Sekretäre stünden ihr zur Seite, um die tägliche Flut der Gesuche zu bewältigen. Bittschriften mussten geprüft und zu den Akten genommen werden, man musste Dankschreiben an Leute verfassen, die Geschenke gesandt hatten, freundlich ablehnende Bescheide mussten erstellt und verschickt werden, und alle Vorgänge, die so wichtig

Weitere Kostenlose Bücher