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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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legte.
    »Dass Sie niemals ihre einzige Spionin waren, Warwara. Selbst damals in Elisabeths Schlafzimmer hatte sie noch andere Leute, die sie auf dem Laufenden hielten.« Er tippte sich an die Stirn, als wollte er mich auffordern, mein Gehirn ein bisschen anzustrengen. »Viele andere. Ich habe mich oft gefragt, wann Sie es endlich kapieren würden.«
    Ich spürte, wie meine Knie zitterten, ein Schauder lief mir über den Rücken. »Gehen Sie, bevor ich Sie hinauswerfen lasse«, sagte ich und klingelte.
    »Sie haben getan, was sie von Ihnen verlangt hat, und tun es noch. Sie sind nur ein gewöhnlicher Spitzel, jederzeit austauschbar, Warwara. Das Einzige, was Sie von anderen unterscheidet, ist, dass Sie sich für etwas Besonderes halten.«
    Wo bleibt dieser verdammte Diener so lange? , dachte ich voller Wut.
    Aber der vormalige Kanzler öffnete bereits die Tür und schritt hinaus.
    Ich saß alleine da. Als Mascha kam und fragte, ob ich etwas brauchte, schickte ich sie weg.
    Ich tröstete mich mit dem Gedanken daran, wie Katharina mit einer abfälligen Bemerkung den letzten von Bestuschews umfangreichen Reformvorschlägen ad acta gelegt hatte. Er betraf die Armee, und Grigori Orlow hatte nur ein verächtliches Grinsen dafür übrig gehabt. Davor hatte Bestuschew ein Memorandum
zur auswärtigen Politik Russlands vorgelegt, das Panin verärgert hatte.
    Er ist nur ein abgehalfterter Politiker, sagte ich mir. Ein Verlierer, der seine Niederlage nicht erträgt. Einer, der den Brunnen vergiftet, aus dem er selbst nicht mehr trinken kann.
    Ich schloss die Augen und wartete, bis mein Herz wieder ruhiger schlug.
     
    Die Aufführung von Acis und Galatea war für Ende Mai geplant. Ende April zeigte Katharina mir den Entwurf der Einladung, die auch eine Liste der Darsteller enthielt.
    Ich eilte in unsere Wohnung, um Darja davon zu erzählen, aber sie kam nicht, als ich sie rief. Mascha sagte mir, sie schlafe.
    »Was, mitten am Tag? Ist sie krank?«, fragte ich.
    Mascha zuckte die Achseln. Darja habe nur gesagt, sie wolle sich eine Weile hinlegen.
    »Wann war das?«
    »Nach der Mittagskanone. Der Lehrer war eben gegangen. Das arme Kind ist erschöpft von der vielen Tanzerei.«
    »Sie hat jetzt lange genug geschlafen«, sagte ich und ging zu Darjas Schlafzimmer, aber die Tür war zugesperrt.
    »Darja«, rief ich. »Ich bin's, Maman. Mach auf.«
    Ich klopfte, erst leise, dann stärker.
    »Darenka! Bist du wach?«
    Keine Antwort.
    Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich legte das Ohr an die Tür, aber ich hörte nichts. Ich schlug mit der Faust an die Tür.
    Mascha bückte sich und guckte durchs Schlüsselloch.
    »Sie ist nicht da«, sagte sie.
    Auch ich schaute durchs Schlüsselloch. Die Vorhänge im Zimmer waren offen, das Bett war leer.
    Einen schrecklichen Moment lang stellte ich mir vor, dass sie ohnmächtig geworden war und bewusstlos irgendwo auf dem Fußboden lag.
    Ich rüttelte an der Türklinke.
    Dann kam ein Dienstmädchen angelaufen und sagte mir, dass Darjas Schal, ihre Schuhe und ihr Mantel nicht da waren. Und Mascha fand den Schlüssel zum Schlafzimmer. Er lag auf dem Tablett für die Visitenkarten.
    Ich stürzte zur Tür und sperrte auf.
    Zuerst fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Das Bett war ordentlich gemacht. Neben dem Fußschemel standen Darjas Pantoffeln. Dann bemerkte ich, dass der Deckel meiner alten Truhe aus Zedernholz offen stand. Darja musste etwas gesucht haben, denn das weiße Musselinkleid meiner Mutter lag nicht an seinem gewöhnlichen Platz.
    Und da sah ich die Briefe, Igors Briefe. Das rote Bändchen, mit dem sie zusammengebunden gewesen waren, lag daneben. Mir fiel ein, was Darja einmal gesagt hatte: »Ich rede immer noch mit Papa.« Im Geist sah ich ihr blasses, trauriges Gesicht vor mir.
    Ich ahnte jetzt, wo ich sie finden konnte.
     
    Ich ließ die Kutsche vorfahren. »Zum Lazarus-Friedhof, schnell«, sagte ich.
    Während der Fahrt auf der Großen Perspektivstraße nach Osten hielt ich ständig Ausschau nach Darja. Ich dachte daran, wie sie zu mir gekommen war und gesagt hatte, sie wolle nicht bei der Ballettaufführung tanzen. Und wie ich sie dennoch dazu gedrängt hatte.
    Am Tor des Friedhofs stieg ich aus, raffte meine Röcke und rannte, so gut es eben ging in meinen hochhackigen feinen Schuhen, über die Kieswege. Ich rannte, bis ich meine Tochter sah, eine zusammengesunkene Gestalt an Igors Grab, die Hände vor dem Gesicht. Die Grafen Orlow hatten den schlichten Grabstein durch eine

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