Der Winterpalast
die Hofgesellschaft, Kanzler Bestuschew eingeschlossen, begann sich zu zerstreuen.
In einem Vorzimmer der kaiserlichen Suite stand in einer mit Stuckgirlanden umrahmten Nische eine marmorne Büste Peters des Großen. Auf einem Wandteppich daneben prangten auf schimmerndem Grund die ineinander verschlungenen Initialen der Kaiserin. Dort wartete ich – ich weiß nicht, worauf. Vielleicht darauf, dass sich die Tür öffnete, dass sich irgendeine Gelegenheit ergab, meine Dienste anzubieten, dass ich ein Bröckchen wertvoller Information aufschnappte, das ich an den Kanzler weiterreichen konnte?
Manchmal hörte ich die Kaiserin lachen, die Stimme der Fürstin Johanna und die des Großfürsten drangen durch die Tür, nur Sophie schien nie etwas zu sagen.
Etwa eine Stunde verging, dann kam die Kaiserin heraus, allein. Sie beachtete mich nicht, sondern trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Lange stand sie schweigend da, und als ich aufblickte, sah ich sie eine Träne aus ihrem Auge wischen.
Nach der offiziellen Begrüßung wurden die Gäste sich selbst überlassen. Die Fastenzeit hatte begonnen, die Zeit der Beichte und der Buße. Sechs Wochen lang sollten die orthodoxen Gläubigen weder Fleisch noch Fisch anrühren, weder Butter noch andere Milchprodukte, nicht einmal ein bisschen Sahne zum Tee oder Kaffee.
Ja, es war Fastenzeit, aber die Damen aus Deutschland waren Lutheraner und unterlagen nicht den orthodoxen Beschränkungen. Sie brauchten nicht zu fasten und morgens zur Kirche zu gehen. Man sagte ihnen, sie sollten sich ausruhen von den Strapazen der langen Reise und wieder zu Kräften kommen.
Ich war schon einmal im Zimmer der Prinzessin gewesen und hatte mich dort umgesehen.
Ihr Toilettenköfferchen war mit kostbarem Chagrinleder überzogen. Darin befanden sich Porzellantiegelchen und mit Kameen verzierte Fläschchen. Sie enthielten Wasser, das nach Gerste roch, Mandelmilch und poudre de violette für ihr Haar. Sie hatte drei verschiedene Töne von Rouge. Die Parfümflakons waren regelrechte kleine Kunstwerke. Auf einem war ein Cupido ins Glas geschliffen, der mit seinem Bogen ein fernes Ziel anvisierte, auf einem anderen eine Nymphe neben einem Baum. Das Köfferchen samt Inhalt war ein Geschenk der Kaiserin. Ich hörte die Zofen sagen, die deutsche Prinzessin sei mit nur vier Hemden und einem Dutzend Paar grober Strümpfe gekommen.
Ich hatte ein kleines silbernes Kästchen geöffnet. Darin lagen Schönheitspflästerchen aus schwarzem Taft in den verschie
densten Formen, runde, herzförmige, kleine Halbmonde. Ich versuchte mir eines auf die Wange zu kleben, aber es blieb nicht haften.
Das zierliche Schloss eines grünes Büchleins ließ sich mit einer Haarnadel ganz leicht öffnen. Verdächtig leicht.
Der Großfürst hat braune, wunderschön funkelnde Augen, genau wie sein Großvater.
Die russische Kaiserin ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Und die freundlichste. Sie schert sich wenig um übertriebene Etikette.
Sie ist klug, dachte ich. Sie gab sich keine Blöße – in diesem Zimmer war nichts, das verriet, dass sie Zweifel hatte, dass sie die Einsamkeit fürchtete an diesem fremden Hof, wo ein Neuling keine Freunde hat.
Dem Kanzler würde das nicht gefallen, diese Zurschaustellung von lauter Pflichtbewusstsein und Tugend. Im Geist sah ich ihn schon vor mir, seinen missmutigen Blick, seine Finger, die gereizt auf der Tischplatte trommelten. Wieder einmal würde er darüber klagen, wie sehr er in Anspruch genommen war von allen Seiten, wieder einmal würde er ein Glas Wodka nach dem anderen hinunterstürzen.
Zu meiner Überraschung freute mich der Gedanken daran.
Prinzessin oder nicht, Sophie war nur ein junges Mädchen. Was konnte sie schon gegen den Kanzler ausrichten? Er würde dafür sorgen, dass sie wieder dorthin zurückkehrte, wo sie hergekommen war. Vielleicht würde er ihr erlauben, ihre kostbaren Geschenke mitzunehmen als Andenken, die sie an ihre eitlen Träume erinnerten, aber das war auch schon alles. Bis zum Ende ihrer Tage würde sie dem nachtrauern, was sie verloren hatte, diesem kurzen Vorgeschmack auf ein Leben, das das ihre hätte werden sollen.
Du könntest ihre Freundin werden , hatte die Kaiserin im Januar zu mir gesagt, als wir auf die Ankunft der Prinzessin warteten.
Jetzt hatten wir Anfang März, und ich war immer noch nur eine Spionin, die Sophie und ihre vier Ehrendamen, Töchter von kleinen Adeligen aus der russischen Provinz, durch ein
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