Der Winterpalast
Anhalt-Zerbst auf russischem Boden willkommen hieß, hatte ich Gelegenheit, mit unserem hochgestellten Gast eine Unterhaltung zu führen, deren Inhalt ich Eurer Exzellenz pflichtschuldig zur Kenntnis gebe.
Von vordringlichem Interesse für Eure Exzellenz dürfte die fol
gende Bitte sein, die Prinzessin Sophie im Verlauf dieses Gespräch an mich richtete: Ich sollte ihr detaillierte Informationen über Charakter und Lebensumstände der einflussreichsten Persönlichkeiten des Hofs liefern. Im Einzelnen wollte sie gerne wissen: Welche Gefühle empfindet die Kaiserin für diese Personen? Sind sie reich? Sind sie verheiratet, haben sie Kinder? Wer sind ihre engsten Freunde?
»Wenn Sie für mich so ein Dossier zusammenstellen, Herr General«, sagte die Prinzessin, »können Sie meiner Dankbarkeit sicher sein.«
In dem Bewusstsein, dass die Prinzessin, wenn ich mich ihrem ungewöhnlichen Ansinnen verweigerte, sich an jemand anderen wenden würde, fertigte ich die gewünschten Aufzeichnungen an. Eine Abschrift davon lege ich diesem Schreiben bei. Wie Eure Exzellenz sich überzeugen mögen, enthält das Dossier nur weithin bekannte oder leicht zugängliche Informationen. Wenn ich in zwei Fällen die Namen von Lieblingshunden genannt habe, so geschah dies auf ausdrücklichen Wunsch der Prinzessin.
Sie liebt Hunde sehr.
Diesen Brief las ich der Kaiserin am Abend, als ich mit ihr allein war, vor. Ich las langsam, wie es mir der Kanzler befohlen hatte. »Ein Samenkorn kaiserlichen Zweifels einpflanzen«, so hatte er es ausgedrückt.
Die Kaiserin saß vor ihrer Frisierkommode und starrte auf das goldene Geflecht des Armbands, das an ihrem Handgelenk glitzerte.
»Wo ist Sophie jetzt?«, fragte sie, als hätte sie kein Wort von dem gehört, was ich eben vorgelesen hatte.
»In Sankt Petersburg, Majestät. Sie wollen nur kurz Rast halten, bevor sie nach Moskau weiterfahren.«
»Gefällt es ihr dort?«
»O ja, die Stadt ist so viel größer und prächtiger als Berlin, sagt sie. Fürst Repnin hat sie zu einer Vorführung der Elefanten Eurer Majestät mitgenommen. Sie hat fünfundzwanzigmal geklatscht,
so entzückt war sie. Sie konnte gar nicht fassen, dass so riesige Tiere derart anmutig tanzen können.«
»Sie wird rechtzeitig zu Peters Geburtstag hier sein, oder?«
»Ja.«
Ich sah, wie sie sich zu dem in Silber gerahmten Spiegel vorbeugte, ihre Fingerspitze leckte und damit über ihre Braue fuhr. Offenbar erwartete sie nächtlichen Besuch, jemanden, für den sie jetzt Parfüm hinter ihre Ohren und auf die Handgelenke tupfte, jemanden, der durch den Geheimgang kommen sollte, der von diesem Zimmer auf den Hof führte.
»Geh jetzt«, sagte sie.
Ich legte den Aktendeckel auf das Tischchen neben ihrem Bett. Als ich schon fast bei der Tür war, rief sie mich noch einmal zurück.
»Wie lange bist du schon hier, Warwara?«
»Fast ein Jahr, Euer Hoheit.«
»Wie alt bist du jetzt?«
»Sechzehn, Euer Hoheit.«
»Du könntest ihre Freundin werden. Eine ältere Freundin, der sie vertraut.«
»Wenn Euer Hoheit das wünscht.« Ich wartete darauf, dass sie noch etwas sagte, aber sie wedelte nur mit der Hand zum Zeichen, dass ich entlassen war.
Die Reisenden ließen sich Zeit. Am 6. Februar machte die Kaiserin sich nicht einmal mehr in Anwesenheit des Kanzlers die Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Sie hatte gehofft, Sophie und Peter würden ein, zwei Tage vor dem Fest zusammen verbringen können. Wie lange sollte die »kurze Rast« in Sankt Petersburg dauern? Wussten Sophie und ihre Mutter nicht, dass die Kaiserin wartete?
Am 9. Februar fuhr ein Schlitten mit klingelnden Glöckchen am Zaumzeug durch das Tor von Schloss Annenhof und hielt vor dem herrschaftlichen Portal. Ein streichholzdünnes Mädchen be
freite sich aus dem Wust von Fellen und Decken und folgte seiner Mutter ins Gebäude, vorbei an Kammerherren und Gardeoffizieren, die herbeigeeilt waren, um sie zu begrüßen.
»Wie warm es hier ist, Maman!«, rief sie und klatschte in die Hände. »Wärmer als bei uns zu Hause im Sommer!«
In der großen Empfangshalle hieß Marschall Brummer anstelle von Kanzler Bestuschew die Gäste der Kaiserin willkommen.
»Es ist uns eine Ehre«, sagte Fürstin Johanna so laut, dass alle es hören konnten. »Und eine große Freude.«
Man geleitete sie zu ihren Zimmern, damit sie sich frisch machen konnten, bevor sie der Kaiserin vorgestellt wurden. Auf den Korridoren standen Höflinge und Kammerzofen, Köche, Diener und Hausknechte
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