Der Winterpalast
üben.
Du könntest ihre Freundin werden , hatte die Kaiserin gesagt. Eine ältere Freundin, der sie vertraut.
In der Ecke begann Bairta wieder zu schluchzen. Das ist meine Chance , dachte ich.
Ich schlich mich aus meinem Kabuff, ging zur Tür von Sophies Zimmer und klopfte.
»Herein.«
Ich trat ein. Prinzessin Sophie lächelte, als sie mich sah, offenbar erkannte sie mich wieder. Das war schon mehr, als ich erwartet hatte.
»Sie sind die Vorleserin des Großfürsten, nicht?«, fragte sie. »Wie heißen Sie?«
»Warwara Nikolajewna.«
»Warwara Nikolajewna.« Aus ihrem Mund klang mein russischer Name merkwürdig hart. »Hat der Großfürst Sie geschickt?«
»Ich kam nur zufällig gerade vorbei, Hoheit«, sagte ich. Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über ihr Gesicht. »Ich glaubte, ich hätte jemanden weinen gehört.«
Sie zeigte auf Bairta. Das arme Kind kauerte in der Ecke, das
Gesicht zwischen den Knien versteckt. »Sie weint die ganze Zeit. Ich frage sie immer wieder, warum sie so unglücklich ist, aber sie versteht mich nicht.«
Bairta zog die Schultern hoch und gab einen halb seufzenden, halb schluchzenden Laut von sich.
Ich kniete mich neben ihr hin.
»Warum weinst du?«, fragte ich auf Russisch.
Zögernd blickte das kleine Mädchen auf. »Ich will zu meiner Mama«, stieß sie mit tränenerstickter Stimme hervor.
Sophie und ich wechselten einen hilflosen Blick. Wie soll man einem Kind erklären, dass nicht einmal eine Prinzessin sich den Wünschen einer Kaiserin widersetzen kann?
»Sagen Sie ihr, ich zeige ihr was, wenn sie aufhört zu weinen«, sagte die Prinzessin.
Ich tat es.
Bairta sah neugierig, aber immer noch in Tränen aufgelöst, zu, wie die Prinzessin ihre Backen aufblies und ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Sie knurrte, miaute und fauchte wie ein Kater, der sich zum Kampf gegen einen verhassten Rivalen bereit macht. Und dann folgte das wilde Kreischen einer erbitterten Schlacht, so täuschend echt, dass man glauben konnte, es wären wirklich zwei Palastkatzen unbemerkt ins Zimmer geschlüpft. Sophies Gesicht lief rot an vor Anstrengung, aber sie hörte nicht auf, bis Bairtas Tränen versiegten.
»Wie haben Sie das gelernt?«, fragte ich fasziniert.
Sie lachte, und ihre blauen Augen blitzten, ihr ganzes Gesicht strahlte. Nein, sie war keine »kleine Hausfrau«, und eigentlich war ihr Kinn gar nicht so spitz.
»Mein Vater hat es mir beigebracht«, sagte sie.
Und dann fügte sie hinzu: »Aber ich will lieber nicht über ihn sprechen, denn das würde mich traurig machen. Und es wäre doch wirklich ganz nutzlos, wenn ich jetzt auch noch zu weinen anfinge, nicht?«
Professor Staehlin war angewiesen worden, den Unterricht des Großfürsten zu verkürzen. Die beiden Kinder, meinte die Kaiserin, sollten mehr Zeit ungestört von fremder Gesellschaft miteinander verbringen, bevor der Hof nach Sankt Petersburg zurückkehrte.
Ich sollte sie im Auge behalten.
Der Großfürst besuchte seine Zukünftige jeden Tag, wie die Kaiserin es wünschte, und blieb volle zwei Stunden bei ihr, aber es gab wenig zu berichten.
Sophie bat ihn, eine Schlittenfahrt mit ihr zu unternehmen, doch er meinte, das würde sie nur langweilen.
»Sie könnten mir einen russischen Tanz beibringen«, schlug sie vor.
»Ich tanze nicht gern.«
»Wieso nicht?«
»Es macht mir einfach keinen Spaß.«
Zu einer längeren Unterhaltung kam es nur, wenn Sophie den Rat ihrer Mutter befolgte und das Gespräch auf Holstein brachte.
Die beste Neuigkeit, die ich zu berichten hatte, war die von einem ungeschickten Kuss, den der Großfürst seiner Verlobten auf die Wange gedrückt hatte. Anschließend waren die beiden ausgelassen durch die Korridore gerannt und hatten versucht, die Posten, die vor den Türen Wache standen, zum Lachen zu bringen.
Ich war auf dem Weg zum Großfürsten, als Bairta mich aufhielt.
»Kommen Sie«, flüsterte sie und fasste meine Hand. »Die Herrin will Sie sprechen.«
Schweigend ging ich mit ihr. Am Tag zuvor hatte ich sie in dem Raum vor Sophies Schlafzimmer Harfe spielen hören. Ich fragte sie nicht, ob sie sich immer noch nach ihrer Mutter sehnte.
Sophie saß allein am Fenster, ein Buch im Schoß, als ich eintrat. Ihre Füße ruhten auf einem Fußwärmer – die Kaiserin fand, dass Pelzdecken nicht genügten, die Kälte des russischen Winters abzuwehren.
Ich war auf der Hut, denn ich rechnete damit, dass sie mir Fragen nach dem Großfürsten oder der Kaiserin
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