Der Winterpalast
gelassen werden.«
Das war es, was beide brauchten, glaubte ich damals. Befreiung von dem Erwartungsdruck, der auf ihnen lastete, eine Weile nicht Gegenstand gespannter Aufmerksamkeit zu sein. Der Wille der Kaiserin war oberstes Gesetz, und jetzt wollte sie einen Thronerben. Wie, das spielte keine Rolle, wichtig war nur, dass sie ihn bekam.
»Wer auf Russland vertraut, wird nie enttäuscht werden, Warwara«, sagte die Kaiserin, als ich an jenem Abend ihr Schlafzimmer betrat und vor ihr knickste. »Ich habe nicht vergessen, was dein Vater sich gewünscht hat.«
Sie war nicht allein. Der Kanzler saß in einem vergoldeten Lehnstuhl am Fenster und klopfte sacht mit einem zusammengerollten Bündel von Papieren auf seine Handfläche. Er drehte sich nach mir um und lächelte in einer Art, als blickte er zugleich verwundert und amüsiert auf ein junges Hündchen nieder, das in seinen Schuh zu beißen versuchte. Ich spürte, wie sich meine Kiefermuskeln anspannten.
Die Kaiserin strich sich mit der Hand durchs Haar. Es wurde immer lichter, trotz der Spülungen mit einem Aufguss aus Birkenrinde und der hundert Bürstenstriche am Morgen und am Abend. Ihr Atem roch nach Kirschlikör. Die Kerze neben ihr flackerte.
Mein Herz klopfte wild. War es denkbar, dass sie mich zu Katharinas Ehrendame ernannte?
»Es ist nicht gut für eine Frau, allein zu sein, Warwara.«
Der Kanzler klatschte in die Hände.
Ich ahnte immer noch nichts, auch nicht, als die Tür aufging und ein junger Mann in einer grünen Uniform mit scharlachroten Aufschlägen hereinkam. Ein Soldat der Garde.
»Was für ein schönes Paar ihr zwei abgeben werdet.« Die Stimme der Kaiserin schien von weit her zu kommen wie die einer Frau, die in einem anderen Raum mit sich selbst spricht.
So muss sich ein in die Enge getriebenes Tier fühlen, das am Ende einer unterirdischen Röhre angekommen ist und hinter sich kalten, unnachgiebigen Fels spürt. Es lebt noch, das Blut rast noch durch seine Adern, es empfindet nichts als blanken Unglauben angesichts der Erkenntnis, dass dies wirklich das Ende ist. Noch hofft es auf ein Wunder – dass sich ein Loch in der Wand auftut, dass der Jäger, vom Schlag getroffen, tot umfällt.
Igor Dmitrijewitsch Malikin, Secondelieutenant des Preobraschenski-Regiments, sollte mein Ehemann werden. »Eine große Ehre«, fuhr die Kaiserin fort. Sie hatte nicht den leisesten Zweifel, dass ich ihr dankbar war. Ich sollte einen Offizier der stolzen Leibgarde Peters des Großen zum Mann bekommen, jener Eliteeinheit, die hoch über der regulären Armee stand und Elisabeth an die Macht gebracht hatte.
Einen Adeligen, wie es mein Vater gewünscht hatte.
»Er ist Waise wie du, Warwara. Sieh ihn dir an.«
Ich sah ihn mir an. Dichtes schwarzes Haar, buschige Brauen, lächelnde Lippen, zwischen denen ein regelmäßiges Gebiss sichtbar wurde. Seine behandschuhte Linke ruhte auf seiner Hüfte, unter dem Arm ein Tschako mit Federbusch, die Rechte – ohne Handschuh – hing lose herunter. Der Gedanke, dass diese Hand mich berühren sollte, erfüllte mich mit wilder Empörung. In meiner Phantasie sah ich mich nachts in Männerkleidung aus dem Palast schleichen, um dieser Ehe zu entkommen, die ich nie gewollt hatte. Aber wohin könnte ein Flüchtling, gleichgültig ob Mann oder Frau, entkommen, der niemanden hat auf der Welt? Entweder kommt er um oder endet als Sklave noch unbekannter Herren.
»Ein schöner Mann, nicht, Warwara?«, fragte Elisabeth.
»Ja, Euer Hoheit.«
Aus dem Schatten war ein leises rhythmisches Klopfen zu hören. Der Kanzler trommelte mit der Papierrolle lässig auf sein Knie. Manche Erinnerungen sind wie eingebrannt: Ich beschütze dich, ich sorge für dich. Du hörst zu und gehorchst. Lüge alle Leute an, aber niemals mich.
Ich schlug die Augen nieder und konzentrierte mich darauf, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
»Erinnern Sie sich nicht an mich?«, hörte ich Igor fragen. In seiner Stimme klang zu viel freudige Erwartung.
»Nein«, sagte ich, obwohl ich ihn natürlich kannte. Wie andere Wachsoldaten hatte er immer mit mir zu schäkern versucht und mich aufgehalten, wenn ich vorbeikam. Wieso hatte ich die Gefahr nicht gespürt, wenn er mich am Handgelenk gepackt hatte? »Ich krieg dich schon noch«, hatte er mir einmal nachgerufen.
Ich war zu sehr mit dem Leben anderer Leute beschäftigt gewesen, um daran zu denken, dass diese Hände, die auf den Gängen des Palasts nach mir haschten, zu Werkzeugen
Weitere Kostenlose Bücher