Der Wissenschaftswahn
»vorbei«. Mit der Gegenwart verbunden ist die Vergangenheit wie in der herkömmlichen Physik durch Kausalität, die Gegenwart mit der Vergangenheit jedoch durch das Fühlen oder, wie Whitehead es nennt, durch
prehension
, was so viel wie Erfassen oder Begreifen bedeutet.
Nach Whiteheads Auffassung ist jedes aktuelle Geschehen zweifach bedingt: durch in der Vergangenheit liegende physikalische Ursachen und durch das selbstschöpferische, sich selbst erneuernde Subjekt, das seine eigene Vergangenheit auswählt und auch unter möglichen Zukunftsversionen eine Wahl trifft. Durch seine »Erfassungen«
(prehensions)
bestimmt es, was es aus der Vergangenheit in seine Gegenwart herüberholt, und es wählt auch unter den Möglichkeiten, die seine Zukunft bestimmen. Mit seiner Vergangenheit ist das Subjekt durch ein selektierendes Gedächtnis verbunden, mit seiner potenziellen Zukunft durch seine Wahl-Akte. Selbst die allerkleinsten Prozesse, etwa Quantenereignisse, sind physikalischer
und
geistiger Natur und von zeitlicher Ausrichtung. Physikalische Kausalität geht von der Vergangenheit in die Zukunft, während sich geistiges Geschehen in die andere Richtung bewegt, nämlich einerseits durch »Erfassungen« von der Gegenwart in die Vergangenheit, aber auch von potenziellen Zukunftsvarianten in die Gegenwart. Es besteht demnach zwischen dem geistigen und dem physikalischen Pol eines Ereignisses eine Zeit-Polarität: physikalische Kausalität von der Vergangenheit zur Gegenwart und mentale Kausalität von der Gegenwart zur Vergangenheit.
Whitehead behauptete nicht, Atome seien bewusst wie wir, aber er sprach ihnen Gefühle und Erfahrung zu. Gefühle, Regungen und Erfahrungen sind grundlegender als das menschliche Bewusstsein, und jedes geistige Ereignis ist durch materielle Ereignisse bedingt, die ihrerseits aus vergangener Erfahrung bestehen. Erkenntnis ist nur möglich, weil die Vergangenheit in die Gegenwart einströmt und sie gestaltet, während das Subjekt zugleich unter den Möglichkeiten wählt, die seine Zukunft bestimmen. [246]
Whiteheads Philosophie wird von vielen als sehr schwer verständlich empfunden, vor allem in seinem Hauptwerk
Process and Reality
von 1929
(Prozess und Realität)
, doch seine Erkenntnisse über die zeitliche Beziehung zwischen Geist und Materie weisen einen Weg nach vorn und lohnen die Mühe, auch wenn sie sehr abstrakt sind. Einer seiner zeitgenössischen Anhänger, Christian de Quincey, versucht seine Ideen zu veranschaulichen:
Denken Sie sich die Realität als aus unzähligen »Blasen-Augenblicken« zusammengefügt, wobei jede Blase zugleich physikalischer und geistiger Natur ist – eine Blase oder ein Quantum
empfindungsfähiger
Energie … Jede Blase existiert für einen Moment und platzt dann, und was sie dabei »versprüht«, ist der gegenständliche »Stoff«, der den physikalischen Pol der nächsten Augenblicks-Blase bildet … Zeit ist unsere Erfahrung dieser beständigen Folge von Augenblicksblasen des Seins (oder
Werdens
), wie sie sich in den Jetzt-Augenblick hinein blähen und wieder aus ihm hinausplatzen. Wir empfinden diese Folge von Augenblicken als ein Wegströmen der Gegenwart in die Vergangenheit, wobei die Gegenwart jedoch immer wieder mit neuen Jetzt-Augenblicken aus einer anscheinend unerschöpflichen Quelle aufgefüllt wird, die wir zu etwas namens Zukunft verdinglichen … Zukunft existiert nicht oder nur als in diesem gegenwärtigen Augenblick – in der Erfahrung – liegende
Potenziale
oder Möglichkeiten, und dieser gegenwärtige Augenblick ist immer durch den objektiven Druck der Vergangenheit (die physikalische Welt) bedingt. Subjektivität (Bewusstsein, Wahrnehmung) ist das Erleben dieser Möglichkeiten, unter denen wir dann wählen, um den nächsten neuen Augenblick der Erfahrung zu erschaffen. [247]
Die Beziehung der bewussten Erfahrung zur Zeit ist experimentell erforscht worden, und das mit faszinierenden Resultaten.
Bewusstes und Unbewusstes
Es gibt mindestens zwei Bedeutungen des Wortes »unbewusst«. Die eine besagt, dass überhaupt nichts an Geist, Erfahrung und Gefühl vorhanden ist, und das meinen die Materialisten, wenn sie Materie als unbewusst bezeichnen. Physiker und Chemiker betrachten ihre Forschungsgegenstände als in diesem absoluten Sinne unbewusst: ohne jegliches Bewusstsein. Psychologisch gesehen besitzt das Wort jedoch einen ganz anderen Sinn, etwa in dem Begriff »das Unbewusste«. Die meisten unserer geistigen Prozesse
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