Der Wissenschaftswahn
verlaufen unbewusst, und das gilt auch für Gewohnheiten. Am Steuer eines Wagens können wir uns trotzdem unterhalten und dabei ständig auf das Verkehrsgeschehen ringsum reagieren, ohne dass uns die dazugehörigen Bewegungen und kleinen Entscheidungen alle bewusst wären. Ich komme beispielsweise an eine bestimmte Kreuzung und biege automatisch rechts ab, weil das meine gewohnte Strecke ist. Zwar treffe ich eine Wahl unter den Möglichkeiten, aber ich wähle aufgrund einer Gewohnheit. Wenn ich mich dagegen in einer unbekannten Ortschaft mit Hilfe eines Stadtplans zurechtzufinden versuche, ist meine Entscheidung an jeder Kreuzung eine ganz bewusste. Insgesamt ist jedoch nur ein geringer Anteil unserer Entscheidungen bewusst. Unser Verhalten beruht größtenteils auf Gewohnheit, und Gewohnheiten laufen naturgemäß unbewusst ab.
Tiere sind wie wir Menschen weitgehend von Gewohnheiten bestimmt. Aber wenn sie sich, wie wir, der meisten ihrer Aktionen nicht bewusst sind, heißt das noch nicht, dass sie geistlose Maschinen wären. Sie sind nicht ausschließlich Körper, sondern haben auch eine geistige Seite – ihre Gewohnheiten, Gefühle und Verhaltensmöglichkeiten, unter denen sie, ob nun bewusst oder unbewusst, wählen.
Es scheint nicht sinnvoll zu sein, Elektronen, Atomen und Molekülen die Fähigkeit der bewussten Wahl zuzuschreiben, aber vielleicht treffen sie wie wir und wie die Tiere unbewusste Entscheidungen aufgrund von Gewohnheiten. Gemäß der Quantentheorie bestehen sogar für Elementarteilchen wie Elektronen viele alternative Zukunftsmöglichkeiten. Bei der Berechnung ihres Verhaltens müssen die Physiker alle diese möglichen Zukunftsvarianten berücksichtigen. [253] Elektronen sind insofern physikalisch, als sie sich so verhalten, wie sie es auch früher schon getan haben, aber sie besitzen eben auch einen geistigen Pol, weil sie diese Wiederholungen zu ihren möglichen »Zukünften« in Bezug setzen, die in gewisser Weise eine in der Zeit rückwärts gerichtete Wirkung ausüben.
Aber können wir Molekülen Erfahrung, Gefühle und Motive zusprechen? Können sie von einer möglichen Zukunft »angezogen« und von einer anderen »abgestoßen« sein? Die Antwort lautet ja. Zunächst einmal sind sie elektrisch geladen, sie »fühlen« das elektrische Feld um sich herum; sie werden von positiv geladenen Körpern angezogen und von negativ geladenen abgestoßen. Wenn Physiker ihr Verhalten mathematisch zu erfassen versuchen, nehmen sie nicht an, dass ihre »Empfindungen« von Anziehung und Abstoßung mit etwas anderem als rein physikalischen Kräften zu tun haben könnten oder dass ihr individuell unvorhersehbares Verhalten von etwas anderem als Zufall und Wahrscheinlichkeit abhängig sein könnte. Gefühl und Erfahrung, würden Materialisten sagen, sind im Hinblick auf Elektronen blumige Metaphern. Manche Physiker denken da freilich anders, zum Beispiel David Bohm und Freeman Dyson. Bohm schreibt: »Die Frage ist, ob Materie einfach nur grob und mechanisch ist oder immer subtiler wird und schließlich nicht mehr von dem zu unterscheiden ist, was wir Geist nennen.« [254] Bei Freeman Dyson klingt es ähnlich:
Ich glaube, unser Bewusstsein ist nicht einfach ein passives Begleitphänomen, das vom Strom der chemischen Ereignisse in unserem Gehirn mitgetragen wird, sondern eine aktive Instanz, die den molekularen Komplexen aufträgt, sich zwischen einem möglichen Quantenzustand und einem anderen zu entscheiden. Anders gesagt, Geist ist bereits jedem Elektron immanent, und die menschlichen Bewusstseinsprozesse sind nur graduell und nicht grundsätzlich von den Entscheidungen zwischen verschiedenen Quantenzuständen verschieden, die wir »zufällig« nennen, wenn sie von Elektronen getroffen werden. [255]
Bei der Auseinandersetzung mit solchen schwierigen Dingen stellen sich alle möglichen weiteren Fragen, etwa nach der Bedeutung von Wörtern wie »Gefühl«, »Erfahrung« und »Anziehung«. Sind sie rein metaphorisch, wenn sie auf Quantensysteme angewendet werden? Vielleicht. Aber ein metaphernfreies Denken steht nicht zur Wahl. Die Naturwissenschaft ist voller Metaphern. »Naturgesetz« ist eine Metapher, das Computermodell des Gehirns ist eine Metapher und so weiter. Letztlich aber geht es weniger um Worte und Sprache als um das wissenschaftliche Problem. Wie Bergson und Whitehead deutlich gemacht haben und Libet experimentell zeigen konnte, haben die geistigen und physikalischen Aspekte materieller
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