Der Wohlfahrtskonzern
man die eifrige und hastige Geschäftigkeit und die alle Kräfte beanspruchende Anspannung, unter der alle standen, aber die Dinge gingen ihren Gang. Die langen Schlangen der Fahrzeuge draußen vor dem Fenster – sie strömten irgendwohin; und jedes von ihnen fuhr in Dienst und Auftrag der Gesellschaft, wie man an dem Medaillon sehen konnte, das an jedem Kühler befestigt worden war.
Vielleicht bestand der Trick darin, jeder Sektion vorzumachen, sie sei die einzige, die betroffen war. War das klug? Ich wußte es nicht. Er funktionierte, und das ist wahrscheinlich der Prüfstein jeder Klugheit. In Neapel wußte man natürlich, daß irgend etwas in Rom vor sich ging, aber über die Republik von Mailand war man schon im Zweifel. Die Römer hatten selbstverständlich keine Zweifel über Mailand, waren sich aber im unklaren über das Herzogtum von Monaco. Und der sprichwörtliche Mann auf der Straße war sich, falls er überhaupt darüber nachdachte, bestimmt sicher, daß soweit entfernt liegende Länder wie Amerika oder China völlig ungefährdet waren.
Es wird wohl klug gewesen sein, denn es kam offenbar zu keiner Panik. Der Trick ermöglichte es, den Schrecken einer weltweiten Katastrophe gegen einen nur lokal begrenzten Unfall auszutauschen, der sich in der Qualität nicht sehr von einem Erdbeben oder einer Überschwemmung unterschied. Und außerdem war da immer noch der Sack mit Gold, der am Ende einer jeden Katastrophe wartete: Blauer Riegel würde mit freigiebiger Hand für jeden Schaden zahlen.
Ausgenommen dieses Mal, Blauer Riegel würde nicht bezahlen können, überhaupt nicht.
Gegen Mittag war Benedetto aus dem Bett.
Es war eigentlich nicht richtig, aber er war bei Bewußtsein, und wir konnten ihn nicht halten, ohne ihn anzuketten.
Er sah sich das Programm an und hörte zu, als Rena und ich ihn auf den neuesten Stand brachten. Genau wie ich war er erschüttert und zugleich hoffnungsvoll, als er erfuhr, daß Millen Carmody in den Gewölben lag – hoffnungsvoll, weil wir damit endlich eine Handhabe hatten, mit der wir das Problem in den Griff bekommen konnten; falls wir an Carmody herankamen, konnten wir vielleicht Defoes usurpierte Macht brechen. Ohne ihn würde Defoe ganz einfach die Jahre, während die Welt schlief, dazu nutzen, eine weltweite Diktatur aufzubauen.
Wir brachten den alten Mann dazu, sich hinzulegen, und verließen ihn. Aber nicht für lange. Es war noch keine Stunde vergangen, als er sich in das Zimmer schleppte, in dem wir saßen und auf den Bildschirm starrten. Er wischte Renas einsetzenden Protest mit einer Handbewegung beiseite. »Laß es gut sein, Tochter«, sagte er. »Schimpf nicht mit mir, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Vati, du mußt im Bett bleiben«, sagte Rena besorgt. »Der Arzt hat gesagt …«
»Der Arzt«, sagte Benedetto nachdrücklich und unpersönlich, »ist ein Dummkopf. Soll ich uns hier sterben lassen? Bin ich nur ein alter Narr, oder bin ich Benedetto dell’Angela, der zusammen mit Slovetski zwanzigtausend Mann geführt hat?«
»Bitte!« sagte Rena. »Du bist krank!«
»Genug.« Benedetto schwankte, aber er stand aufrecht. »Ich habe telefoniert und eine Menge erfahren. Die Bewegung …« – er lehnte sich gegen die Wand, um sich zu stützen – »wurde nicht von dummen Jungen geplant und aufgebaut. Wir waren uns klar darüber, daß sehr schlechte Zeiten auf uns zukommen konnten; wir brechen nicht zusammen, weil die Gesellschaft ein paar von uns aus dem Verkehr gezogen hat. Ich kenne diverse Nummern, die ich im Notfall anrufen kann, und das habe ich getan. Und ich habe in Erfahrung gebracht …« – er machte eine dramatische Pause – »… daß es wirklich Neuigkeiten gibt. Slovetski ist entkommen!«
»Das gibt es nicht«, sagte ich. »Defoe würde ihn nicht laufen lassen!«
»Vielleicht hat ihn Slovetski nicht um Erlaubnis gefragt«, antwortete Benedetto gravitätisch. »Auf jeden Fall ist er frei und nicht weit von hier. Und er ist die Antwort, die wir gesucht haben, verstehen Sie?«
»Wie?« wollte ich wissen. »Was kann er tun, das wir nicht können?«
Benedetto lächelte nachsichtig, aber schmerzverzerrt. Seine Wunde mußte ihm höllische Qualen bereiten; sie hatte gerade genug Zeit gehabt, um nicht mehr zu bluten. »Überlassen Sie das Slovetski, Thomas«, sagte er. »Das ist sein Metier, nicht Ihres. Ich werde jetzt zu ihm gehen.«
Nun, ich tat, was ich konnte, aber Benedetto war ein unbeugsamer alter Mann mit einem eisernen
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