Der Wolf aus den Highlands
entscheiden konnte, welche sie zuerst stellen sollte. Dass er sie belogen hatte, schmerzte noch immer, aber langsam verstand sie, warum er es getan hatte. Er war zum Leben eines Vogelfreien verdammt worden – jeder hatte das Recht, ihn zu töten. In mancherlei Hinsicht war er ein toter Mann, er wartete nur auf den letzten, tödlichen Schlag.
»Wer weiß noch, wer du wirklich bist?«, fragte sie endlich.
»Big Marta. Sie hat mich zu lange gekannt, um sich von meiner Tarnung täuschen zu lassen. Ich glaube, sie hat mich schon nach wenigen Minuten erkannt.«
James musterte Annora, während sie kurz nachdachte. Er entdeckte nichts mehr von der Angst, die sie gezeigt hatte, als sie erraten hatte, dass er nicht der war, der zu sein er erklärt hatte. Und sie sah auch nicht mehr so schockiert aus, so, als sei sie bereit davonzulaufen. Einen Moment lang hatte sie verletzt gewirkt, und das konnte er gut verstehen. Wahrscheinlich wäre es ihm genauso ergangen, wenn sie ihn auf ähnliche Weise zu täuschen versucht hätte. Seine Täuschung konnte sie allerdings zu der Annahme verleiten, dass alles, was er gesagt oder getan hatte, gelogen war, und das wollte er natürlich verhindern.
»Und sie hat dein Geheimnis für sich behalten?« Freilich vermutete Annora, dass es Big Marta überaus recht wäre, wenn Donnell und seine Männer aus Dunncraig vertrieben würden.
»Aye, das hat sie, und das wird sie auch weiterhin.« James setzte sich neben sie. Sehr zu seiner Freude machte sie keine Anstalten, zu fliehen oder von ihm abzurücken. »Sie weiß, dass ich unschuldig bin.«
»Meine Güte, das weiß ich auch, aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut für mich ist.« Sie verspannte sich nur ganz kurz, als er den Arm um ihre Schultern legte und sie näher an sich heranzog. »Meinem Gefühl nach kannst du weder Mary noch sonst einer Frau etwas zuleide tun; ich kann mir kaum vorstellen, dass du sie getötet hast. Aber trotzdem verstehe ich nicht, wie Donnell es geschafft hat, dich zu beschuldigen und alles an sich zu reißen, was dir gehört hat.« Sie sah ihn an. »Sogar Meggie.«
»Sogar Meggie, obwohl ich glaube, dass sie sich gar nicht mehr an mich erinnert.«
»Ich glaube schon. Jedenfalls beharrt sie darauf, dass Donnell nicht ihr Vater ist, und dass ihr Vater ein Mann war, der viel gelacht und gelächelt und sie geliebt hat. Donnell tut nichts dergleichen.«
James nickte. »Das hat sie mir gegenüber auch schon erwähnt.«
»Hast du vor, Meggie aus Dunncraig zu entführen?«
»Nay. Ich habe vor, sie und Dunncraig zurückzuholen. Ich bin geflohen, um mein Leben zu retten, aber es war überhaupt kein richtiges Leben mehr. Als ich in diesem Jahr bei Frühlingsbeginn aus meiner Winterhöhle gekrochen bin, beschloss ich, dass es reichte.«
Als Annora sich vorstellte, wie dieser lebensfrohe Mann sich wie ein Tier in einer Höhle verkrochen hatte, wurde sie so traurig, dass sie beinahe zu weinen begonnen hätte. Sie vertrieb diese Trauer mit Wut auf Donnell. Ihr Cousin hatte den Mann sogar seiner Würde beraubt. An diesem Punkt erkannte sie, dass sie James wirklich glaubte. Sie hatte sich immer gefragt, auf welche Weise Donnell zu so viel Reichtum gekommen war, und immer hatte sie eine Trickserei oder ein Verbrechen dahinter vermutet. Doch wie sollte so ein Verbrechen nach drei langen Jahren bewiesen werden?
»Es wird nicht leicht werden, deine Unschuld zu beweisen«, sagte sie.
»Nay, das weiß ich nur zu gut. Ursprünglich dachte ich mir, ich würde die Wahrheit schon herausfinden, wenn ich nur nach Dunncraig zurückkehrte. Aber jetzt bin ich schon geraume Zeit hier und habe noch nichts gefunden, mit dem ich den Mistkerl an den Galgen bringen könnte. Natürlich wird einer, der raffiniert genug ist, einen Unschuldigen ächten zu lassen und einen Anspruch auf den Besitz desselben durchzusetzen, keine Beweise für seine Verbrechen herumliegen lassen. Big Marta hat ein paar geflüsterte Gerüchte gehört und versucht jetzt herauszufinden, was dahinter steckt. Aber sie will mir alles erst erklären, wenn sie es abgesichert hat.«
»Von ihr wirst du bestimmt erst dann Näheres erfahren, wenn sie weiß, was wahr ist und was nicht. Sie ist eine sehr aufrichtige Frau. Aber jetzt muss ich dich doch fragen, auch wenn ich nicht in alten Wunden stochern will: Unter welchen Umständen ist Mary gestorben? Ich habe immer nur gehört, dass du sie umgebracht hast und dass sie in einem kleinen Cottage im Wald verbrannt ist.«
Als James
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