Der Wolf aus den Highlands
Meggie, als Annora bei ihr angelangt war.
Als Annora das in Leder gebundene Buch in Meggies Hand erblickte, vergaß sie ihre Strafpredigt. Rasch wurde ihr klar, worum es sich handelte – es musste eines der Bücher sein, in die Damen ihre Gedanken oder all die persönlichen täglichen Erlebnisse eintrugen. Nicht viele Frauen waren des Schreibens kundig, sodass solche kleinen Bücher ein seltener Luxus waren. Ein Luxus, den eine Frau wie Mary wahrscheinlich gehabt und auch genossen hatte. Kein Wunder, dass Annoras Hand leicht zitterte, als sie Meggie das Buch abnahm. Hastig dankte sie Gott, dass ihre Bewacher – offenbar gelangweilt davon, Meggie und ihr beim Moossammeln zuzusehen – nicht in Sichtweite waren; denn instinktiv war ihr klar, dass Donnell von dieser Entdeckung besser nichts erfahren sollte.
»Es war in dieses Tuch eingewickelt und steckte in diesem Baum. Ich bin gerannt, und dann bin ich gestolpert und direkt neben dem Loch im Baum hingefallen. Dabei habe ich in das Loch geschaut und das Buch entdeckt. Kannst du mir vorlesen, was darin steht?«
Bei dem schweren, geölten Ledertuch, in das das Buch eingewickelt war, wunderte sich Annora nicht weiter, in welch gutem Zustand es war. Wer auch immer es versteckt hatte, wollte sichergehen, dass es keinen Schaden nahm. Das hieß, dass die Tagebuchschreiberin den Inhalt für wichtig erachtet hatte. So viel Annora wusste, hatte es in den letzten Jahren auf Dunncraig eigentlich nur ein Ereignis gegeben, das es wert gewesen wäre, darüber zu berichten. Das Buch zu verstecken, in dem die Wahrheit festgehalten war, war womöglich das schlimmste Verbrechen an James.
Annora schlug das Buch behutsam auf und las die ersten Worte auf der ersten Seite und fühlte ihr Herz stehenbleiben, um dann so heftig zu pochen, dass ihr ganz schwindelig wurde. Das Buch war ein Geschenk von Marys Mutter an Mary zu ihrer Hochzeit oder, wie die Mutter schrieb: zum ersten Tag deines Lebens als Lady, Gemahlin und – so Gott will – Mutter.
»Ich weiß nicht, ob das so spannend ist für dich, Meggie«, erwiderte Annora schließlich, verwundert, wie ruhig und gelassen sie klang. Innerlich zitterte sie vor Hoffnung und dem dringenden Bedürfnis, sich zurückzuziehen und das Buch zu lesen. »Es ist ein Buch, in das eine Lady all die Dinge schreibt, die sie jeden Tag macht.« Und da diese Lady deine Mutter war und sehr wahrscheinlich deinen Vater hintergangen hat, ist der Inhalt mit Sicherheit nicht für deine jungen Ohren bestimmt, dachte Annora.
»Oh.« Meggie verzog verdrossen das Gesicht. »Warum sollte sich eine Lady die Mühe geben, solche Dinge aufzuschreiben? Es wissen doch ohnehin alle, was sie macht.« Meggie hob das geölte Ledertuch auf und stopfte es in den kleinen Sack, den sie mitgenommen hatte. »Man sollte doch denken, dass sie über interessantere Dinge schreibt.«
»Nun, wenn ich etwas Interessantes in dem Buch finde, werde ich es dir bestimmt erzählen. Ach, übrigens – Meggie, mein Liebes, ich denke, du solltest lieber keinem etwas von diesem Buch sagen, bis ich weiß, wem es gehört und was darin steht. Es ist bestimmt nicht grundlos in einem Baum versteckt worden, und ich möchte erst den Grund herausfinden, bevor wir die Leute wissen lassen, dass du es gefunden hast.«
Meggie verzog das Gesicht, dann nickte sie. »Aye, vielleicht stehen ja auch Geheimnisse darin.«
»Das könnte gut sein, und das würde auch erklären, warum es versteckt worden ist.«
»Ich werde keinem etwas sagen. Kann ich das Tuch behalten, wenn ich sage, dass ich es im Wald gefunden habe?«
»Aye, und das ist ja auch nicht gelogen, du hast es im Wald gefunden. Aber was du darin eingewickelt gefunden hast, solltest du vorerst wirklich verschweigen. Und jetzt komm, wir sammeln noch ein paar Pflanzen, und dann kehren wir nach Dunncraig zurück und waschen uns.«
Es fiel Annora schwer, ruhig zu bleiben, als sie und Meggie sich wieder an die lästige Aufgabe machten, Pflanzen für die Herstellung von Heilmitteln zu sammeln. Seit Donnells Überfällen auf seine Nachbarn gab es viele Wunden zu versorgen. Am liebsten hätte sie sich sofort auf das Tagebuch gestürzt, das sie nun in ihren Beutel gleiten ließ. Sie hatte zwar nur die erste Seite überflogen, aber sie hätte schwören können, dass sie Mary in diesem Buch fühlte. Natürlich hoffte sie, dass sie sich das nicht nur einbildete und sie Antworten auf all die Fragen finden würde, die sie und James hatten. Sie hatten es jedenfalls
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