Der Wolf aus den Highlands
erkennen, dass seine Gemahlin ihn zutiefst verachtete. Die überraschend groben Bemerkungen, mit denen sie sich über seine Männlichkeit und sein Geschick als Liebhaber lustig machte, kränkten ihn zwar, doch da sein Körper noch erfüllt war von den Wonnen der Liebe, die er mit Annora geteilt hatte, verloren sie einen Großteil ihrer Schärfe. Am Ende seiner Lektüre war er wütend, und zwar nicht nur auf Mary und Donnell, sondern auch auf sich selbst, weil er ein derart blinder Narr gewesen war. Er blickte von dem Buch auf und stellte fest, dass Annora fertig angezogen am Fußende des Bettes saß und ihn wachsam beobachtete.
»Wie konnte ich nur übersehen, dass Mary ein solches …« Er stockte; die Regeln der Höflichkeit, die ihm in seiner Jugend beigebracht worden waren, machten es ihm schwer, das zu sagen, was er wollte.
»… Miststück war?«, beendete Annora den Satz für ihn und errötete nur ein klein wenig. Es war ein übles Schimpfwort, aber es fiel ihr keine bessere Bezeichnung für diese Frau ein, als sie den Schmerz und die Verwirrung in James wunderschönen Augen sah.
»Aye, ein treuloses …« – er blickte auf das Buch, dann in Annoras besorgte Augen – »jammerndes kleines Miststück. Wie kommt es, dass ich das nie gesehen habe?«
»Weil sie es dich nicht sehen lassen wollte, James. Selbst in ihrer Familie kannte wohl kaum einer die Mary, die man in diesem Buch entdeckt. Sie war immer süß, ein bisschen schüchtern und sehr, sehr pflichtbewusst. Bestimmt war sie nicht die klügste Frau der Welt, aber sie war schlau, und deshalb schaffte sie es, so zu sein, wie alle es von ihr erwarteten, und schließlich den Lohn für ihr Wohlverhalten einzustreichen. Wahrscheinlich hat sie hinter dem Rücken der Leute, die sie für eine vollkommene Lady hielten, über unsere Dummheit gelacht. Was hast du mit dem Buch vor?«
James stand auf und begann, sich anzukleiden. Sein Zorn wuchs mit jedem Stück, das er anzog. Er wusste, was er mit dem Tagebuch tun musste, so schwer es ihm auch fiel: Er musste es Tormand und Simon zeigen, und sei es nur, weil einige Leute erwähnt wurden, die die beiden womöglich aufsuchen konnten. Leute, die Donnells Verbrechen weitaus besser bezeugen konnten als die Worte einer Frau, die offenbar ein freudloses Leben geführt hatte. Allerdings war Mary an ihrem Elend zum großen Teil selbst schuld, weil sie immer alles hatte haben wollen und nicht immer bekam, was sie wollte.
Er spürte eine sachte Berührung an seinem Arm und hob den Blick. »Ich muss ins Dorf und mit Tormand und Simon reden«, erklärte er Annora.
»Es ist schon ziemlich spät.«
»Sie müssen das Buch so schnell wie möglich sehen, auch wenn es demütigend für mich sein wird, wenn sie lesen, was meine Frau über mich geschrieben hat.«
Annora nickte nur. Sie spürte eine Menge neue Wut in James. Zweifellos hielt er sich für einen kompletten Narren und musste jetzt auch noch andere ihn so sehen lassen. Darüber hinaus fragte sie sich, ob er seine Frau nicht doch geliebt hatte und dieser Beweis ihres Verrats und ihrer Abneigung ihn nicht doch weit tiefer traf, als er zeigen wollte.
»Pass auf dich auf«, murmelte sie, als er zur Tür ging, fast so tuend, als habe er Annoras Anwesenheit völlig vergessen.
Er blieb stehen, ging zurück und drückte ihr einen harten Kuss auf den Mund, bevor er sich erneut auf den Weg machte. »Pass auch du gut auf, wenn du aus dem Zimmer gehst. Doch ich denke, meine Gemahlin hat auch etwas Gutes getan: Sie hat weitaus mehr aufgeschrieben, als es ratsam für sie gewesen wäre. Vielleicht sind wir Donnell bald los.«
Als die Tür hinter ihm zuging, seufzte Annora auf. Vielleicht waren sie Donnell ja wirklich bald los, doch sie fragte sich, ob es James je gelingen würde, sich auch von dem Geist seiner Frau zu befreien. Ob er sie nun geliebt hatte oder nicht – er hatte sie als seine Ehefrau und als Mutter seines Kindes geachtet –, und er hatte ihr vertraut. Nun hatte er herausgefunden, dass Mary nichts davon verdient hatte. Wie mochte sich diese Erkenntnis wohl auswirken, wenn er erst einmal das Durcheinander von Gefühlen entworren hatte, das sie in ihm gespürt hatte? Momentan war er erfüllt von Wut über Marys Verrat und seine Unfähigkeit, die wahre Mary zu sehen. Doch Wut konnte rasch in Verbitterung umschlagen. Und mit Verbitterung geht oft ein Mangel an Vertrauen in sich und andere einher.
Als Annora aus James’ Schlafkammer schlich, begleitete sie die Frage,
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