Der Wolf
der achtziger Jahre die Tollwut von den Alpen her immer weiter in südlicher Richtung vordrang, begann man sich in Italien auch über die
vielen streunenden Hunde Gedanken zu machen. Luigi
Boitani schickte einen Fragebogen an alle Forstämter in
den Apennines Das Ergebnis der Befragung war beunruhigend. Außer den vielen Hunden in den Bergdörfern lebte
eine nicht geahnte Anzahl verwilderter Hunde im Gebirge.
Daneben gab es eine noch größere Menge von Hunden, die
sowohl in den Dörfern als auch im Gebirge herumliefen.
Einige dieser Streuner hatten einen Besitzer, andere lebten eher als eine Art Pariahunde am Rande der menschlichen Siedlungen.
Natürlich ist es unmöglich, diese verschiedenen Kategorien von Dorf- und Pariahunden von streunenden oder völlig verwilderten Hunden zu unterscheiden. Auch scheint
mir die aus den gewonnenen Daten hochgerechnete Zahl
von angeblich 3,5 Millionen herrenlosen Hunden in Italien
stark übertrieben. Daß viele Hunde jedoch an den Müllhalden eine Konkurrenz für die Wölfe darstellen, steht außer
Zweifel. Ebenso ist zu befürchten, daß viele der den Wölfen angelasteten Rißschäden an Haustieren in Wirklichkeit von Hunden verübt werden.
So begann Luigi zusammen mit Francesco Francesi im
Umkreis des Dorfes Ovmdoli im westlichen Teil der Abruzzen das Verhalten der dortigen Hunde genauer zu untersuchen. In der Tat stellten sie bald fest, daß es hier neben
zahlreichen »Gelegenheitsstreunern« eine Gruppe verwilderter Hunde gab, die im Gebirge lebten. Wölfe fehlten
offenbar in dem Gebiet. Die verwilderten Hunde verhielten sich indes ganz ähnlich wie anderswo die Wölfe. Sie
waren sehr scheu und zogen sich tagsüber in unzugängliche Bergzonen zurück. Nur nachts kamen sie ins Tal und
besuchten dann regelmäßig den Müllplatz des Dorfes.
In anderer Hinsicht unterschieden sie sich jedoch erheblich von den Wölfen. Zwar waren Angriffe auf Schafe relativ selten, da die Herden hier wie überall in den Abruzzen
von Schäfern bewacht wurden. Hingegen griffen die Hunde
immer wieder die in den Sommermonaten frei weidenden
Rinder und Pferde an. Als ich dort einmal zu Besuch war,
fanden wir ein Pferd und gleich drei ausgewachsene Kühe
tot im Gelände. Alle vier Kadaver waren kaum angefressen. So konnten wir das Geschehen recht gut rekonstruieren. Alle Tiere waren im steilen Gelände verendet und
wiesen Beinfrakturen auf. Offensichtlich hatten die Hunde
ihre Opfer den Berg hinuntergejagt, wobei diese erheblich
verletzt wurden ; außer Beinbrüchen stellten wir auch Schädelfrakturen fest. Erst danach hatten die Hunde wohl richtig angegriffen. Die eigentliche Todesursache ließ sich allerdings nicht eindeutig ermitteln. Womöglich waren die Tiere
eher an ihren Sturzverletzungen gestorben als an den Bissen der Hunde. Auf jeden Fall aber mußten die Opfer die
Hunde als Gefahr verkannt haben. Hunde sind ja auch in
der Regel nicht gefährlich, und diesen »Harmlosigkeitsvorteil« scheinen die reißend gewordenen Hunde zu nutzen. Nahe bei ihrem Opfer angekommen, können sie dann
plötzlich angreifen und so auch bei größeren und wehrhaften Tieren eine panische Reaktion hervorrufen.
Zumindest im Sommer schien es den Hunden also nicht
an Nahrung zu mangeln. Im Winter aber zogen einige der
Bandenmitglieder, die sonst die Nähe von Menschen so sehr
gemieden hatten, zurück ins Dorf, ja sogar zu ihren Besitzern ins Haus, in die warme Unterkunft. Der Anführer der
Bande, ein großer weißer abruzzischer Hirtenhund, blieb
freilich auch im Winter draußen, gefolgt von einer kleinen
Schar Getreuer. Nur im letzten Winter der Untersuchungszeit blieb er ganz allein, worauf auch er eines Tages wieder ins Dorf kam. Francesi, der ihm gerade folgte, wollte
es zuerst gar nicht glauben. Doch der früher so scheue und
von den Hirten inzwischen viel gejagte Hund lief seelenruhig durch die Dorfstraßen und über die belebte Piazza.
Stunden später entschwand er erneut ins Gebirge, diesmal
gefolgt von einer jungen Hündin, die zuvor nur im Dorf
und im Haus ihres Herrn gelebt hatte – eine »Entführung
aus Ovíndoli«.
Diese Beobachtungen zeigen, daß es sich hier nicht um
eine stabile Population ausschließlich verwilderter Hunde
handelt, sondern daß die Tiere stets mehr oder weniger
stark vom Menschen abhängen, wobei die Übergänge zwischen den verschiedenen Lebensphasen fließend sind. In
einer Hinsicht scheint die Abhängigkeit sogar besonders
groß zu sein: Obwohl immer wieder Welpen im
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