Der Wolf
umherwanderte,
gehörte zum größten Teil zur Ricklinger Gemeindejagd.
Die Bauern, die mitjagten, kannte ich, und ich kam recht
gut mit ihnen aus. Ich glaube, sie haben auch ihre Freude
an den Wölfen gehabt. Nur ein Mitpächter aus Kiel war
wohl etwas ungehalten.
Vielleicht hatte er aus seiner Sicht noch nicht einmal
ganz unrecht. Im späten Herbst wurden die jetzt fast wie
ausgewachsene Tiere aussehenden Jungwölfe immer selbständiger. Sie begannen, sich auch einzeln von Anfa und
mir sowie den anderen Welpen zu entfernen. Solange wir
zügig in einer Richtung gingen, hielten sie noch zusammen. Aber blieben wir stehen oder liefen wir gar zur Försterei zurück, wurde ihre Tendenz, auf eigene Faust loszurennen, immer größer. Stundenlang mußte ich sie manchmal suchen. Als mir das dann zu dumm wurde, verband
ich entweder alle vier oder jeweils zwei Tiere mit einer langen Kette und ließ sie dann wieder laufen. Irgendeinmal
kam sicher ein Baum, an dem der eine auf der einen, der
andere auf der anderen Seite vorbeigehen wollte.
Das war natürlich keine befriedigende Lösung. Inzwischen waren die Welpen, nach einem langen, friedlichen
Sommer, deutlich rauhbeiniger geworden. Jeder hatte jetzt
eine deutliche Individualdistanz, die sich dadurch äußerte,
daß ein anderer Wolf nur in freundlicher oder spielerischer
Absicht bis auf Körpernähe herankommen durfte ; sonst
wurde auf der Stelle aggressiv protestiert.
Unter »Individualdistanz« verstehen wir in der Verhaltensforschung die Distanz zwischen zwei Tieren, die in normalen sozialen Situationen nicht unterschritten wird. Bei
den Wölfen ist sie recht gering, und da die sozialen Situationen, in denen sie unterschritten werden darf, häufig vorkommen, ist sie auch recht schwierig zu beobachten. Am
besten erkennt man sie, wenn die Wölfe schlafen. Während
die Welpen meistens in engem Kontakt zueinander liegen,
liegen die erwachsenen Tiere selten weniger als etwa einen
Meter voneinander. Auch beim gemeinsamen Rennen im
Rudel erkennt man deutlich, daß sie eine direkte körperliche Kontaktnahme vermeiden. Kommt ein Wolf trotzdem
bis auf Körpernähe heran, so signalisiert sein Ausdrucksverhalten friedliche oder wenigstens nichtaggressive Stimmung. Es kann dann zu einem kurzen Kontakt kommen,
etwa Schnauze zu Schnauze oder kurzes Hineinstoßen mit
der Schnauze ins Fell des anderen. Dann gehen sie wieder
auseinander. Längeren Kontakten gehen deutliche Spieloder Demutssignale voraus. Bei aggressiver Beeinträchtigung
der Individualdistanz kommt es dagegen stets zu irgendeiner Form von Verteidigungsreaktion von Seiten jenes Tieres, dessen Individualdistanz verletzt wurde.
Dementsprechend kam es dann auch zwischen den im
Buschwerk oder an einem Baum verhedderten Wölfen manchmal zu stärkeren aggressiven Auseinandersetzungen. Dann
hatte Dagmar eine Idee : Wenn die Wölfe jetzt doch an der
Kette laufen mußten – warum sie dann nicht vor einen Schlitten spannen, um so auch das herkömmliche Bild Schlitten
angreifender Wölfe auf den Kopf zu stellen ? Ich war skeptisch. Ein Sattler in Rickling war jedoch begeistert und sofort
bereit, das Geschirr dazu herzustellen ; das fertige Geschirr
forderte natürlich auch erste Versuche damit heraus.
Die Wölfe waren zuerst über die Lederriemen, die sie über
Brust und Bauch zusammenschnürten, sehr beunruhigt. Sie
versuchten, sie abzustreifen, abzubeißen, abzuschütteln, und
beim ersten, etwas zu großen Geschirr gelang es ihnen auch.
Die nächsten Geschirre wurden kleiner gemacht, und langsam gewöhnten sich die Wölfe daran. Nur das Anlegen war
etwas kompliziert, da es eine nicht gerade friedliche Beeinträchtigung ihrer Individualdistanz und ihrer Bewegungsfreiheit bedeutete. Sie protestierten lautstark, knurrten und
bissen um sich. Alle diese Bisse waren aber nicht fest. Bei
jedem Versuch, fest zuzuschnappen, gab es von mir sofort
einen ordentlichen Schlag, und so behielten sie ihre auch
im sonstigen Umgang mit mir gezeigte Beißhemmung. Ich
versuchte auch immer, das Ganze in einer relativ spielerischen Weise durchzuführen. Trotzdem war der Spektakel
immer groß, bis alle Wölfe ihr Geschirr anhatten.
Auch die ersten Versuche, die Wölfe hintereinander in
den Zugketten einzuspannen, waren chaotisch. Zuerst übte
ich mit Anfa. Sie ließ sich recht willig an die zwei Längsstränge festbinden und zog sogar den Schlitten damit allein.
Die jüngeren Wölfe hingegen wehrten sich zuerst wie verrückt. Dabei
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